Hamburg. Uwe Stöver spricht im Interview über die Rolle seines Clubs, seine Einkaufsgewohnheiten und die Chance, Leistungsträger zu halten.

An seiner Bürotür im Obergeschoss des Trainingstraktes an der Kollaustraße steht in großen Lettern „Big Boss“. Als ein solcher versteht sich Uwe Stöver aber keineswegs. Der Sportdirektor des FC St. Pauli sieht sich als ein Teil des Ganzen. Im Abendblatt-Interview spricht der 50-Jährige über seine Visionen mit dem Kiezclub, die Schnäppchenjagd und wie erdrückend Tradition in Vereinen sein kann.

Herr Stöver, sind Sie privat ein Schnäppchenjäger?

Uwe Stöver: Ja, doch. Ich kaufe gerne gute, aber häufig auch reduzierte Sachen. Wie meine Kaffeemaschine hier im Büro, die heruntergesetzt war. Da habe ich zugeschlagen.

Auch als Sportdirektor des FC St. Pauli sind sie angewiesen, auf Schnäppchen zu achten.

Ich bin so erzogen worden, kostenbewusst einzukaufen. Das tue ich im Privaten und habe es so auch bei meinen letzten Vereinen als Sportdirektor gehandhabt.

Sie sind nach den Stationen Holstein Kiel, FSV Frankfurt und Kaiserslautern nun das erste Mal bei einem Verein, der finanziell solide aufgestellt ist. Ist St. Pauli für Sie ein Schlaraffenland?

Das ist ja immer relativ. Ein Spieler kostet immer etwas, selbst wenn er ablösefrei ist. Ich denke, dass man das ins Verhältnis setzen muss. Man muss überzeugt sein, von dem Geld, dass man investiert hat. Nicht jeder Transfer kann zu 100 Prozent passen. Es ist ja nicht so, dass man sich alleine auf einem Markt bewegt. Es gibt mehrere Vereine, die um einen Spieler werben, und gerade in der Topkategorie bei Qualitätsspielern werden sie von ganz anderen Clubs rekrutiert. Man muss sehr kreativ sein und gemäß den wirtschaftlichen Möglichkeiten das Geld bestmöglich einsetzen, das man zur Verfügung hat. Es kann auch mal ein Spieler sein, der eine Ablösesumme kostet. Grundsätzlich muss man schauen, dass es jemand ist, der hilft und es sich am Ende sportlich auszahlt.

Erleichtert die wirtschaftliche Situation beim FC St. Pauli Ihre Arbeit?

Natürlich macht es die Arbeit ein Stück weit leichter, weil der Markt ein größerer ist. Wenn ich nur ablösefreie Spieler in einer gewissen Gehaltskategorie verpflichten kann, dann ist der Markt klein. Das gibt mir und dem Verein andere Möglichkeiten.

Wie sind Sie persönlich in Hamburg angekommen und hat die Stadt bisher ihre Erwartungen erfüllt?

Ich bin früher schon oft in Hamburg gewesen, aber meist nur des Fußballs wegen. Wenn ich mal nicht dienstlich hier war, habe ich Sightseeing gemacht, mir Musicals angeschaut, oder andere kulturelle Dinge unternommen. Ich lerne die Stadt jetzt anders kennen, obwohl ich manchmal noch das Gefühl habe - wenn ich mir ein Fischbrötchen am Fischmarkt kaufe zum Beispiel - dass ich mich wie im Urlaub fühle. Dabei lebe und arbeite ich jetzt hier. So richtig viel habe ich aber von der Stadt noch nicht gesehen. Das, was ich gesehen habe, waren die Sportplätze in der Stadt und Umgebung, das Millerntor und das Trainingszentrum an der Kollaustraße. Wenn mal etwas Zeit war, bin ich mit meiner Frau oder mit Besuch abends schön Essen gegangen.

Also fühlen Sie sich schon wie ein Hamburger?

Ich bin sowohl in der Stadt als auch im Verein angekommen, was auch daran liegt, dass meine Wohnung jetzt komplett eingerichtet ist, alle Möbel da sind, und dass ich mich gut im Verein eingearbeitet habe. Aber es gibt noch viele Dinge in der Stadt, die ich noch nicht gesehen habe.

Gesehen haben Sie inzwischen alles im Verein. Inwieweit passen ihre Vorstellung vor dem Engagement bei St. Pauli und die Realität zusammen?

St. Pauli habe ich mir immer als Verein vorgestellt, der Fußball in Reinkultur bietet. Das hat sich auch bewahrheitet. Was ich vorher wusste und worüber ich Kenntnisse hatte, waren die Projekte des Vereins außerhalb des Fußballs. Allerdings sind es noch mehr, als ich dachte. Das ist etwas, mit dem ich mich total identifizieren kann und was ich richtig gut finde. In der Größenordnung und Intensität hätte ich das nicht für möglich gehalten.

Was beeindruckt Sie noch bei Ihrem neuen Arbeitgeber?

Stöver: Dieses Verhältnis zwischen Verein, Stadtteil, den Menschen, die dort leben, und den Fans, die der Verein hat. Das ist nicht nur eine Plattitüde, sondern es wird gelebt. Das unterscheidet den Verein von vielen anderen Clubs. Ich habe vor Augen geführt bekommen, wie der Verein lebt, als unser Sicherheitschef Sven Brux eine Stadtteilführung für alle Neuen gemacht hat. Da bekommt man Hintergründe, die man sich im Vorfeld so gar nicht anlesen kann.

Bedeutet diese DNA des Clubs auch mehr Arbeit für den Sportchef, weil er eben auch außerhalb des Fußballs präsent sein muss?

Das habe ich in der ersten Zeit hier schon festgestellt. Ich finde es aber gut und richtig, weil viele Projekte für den guten Zweck sind. Es ist mir wichtig, mir auch Zeit dafür zu nehmen.

Wenn Sie sich Zeit nehmen, um die Mannschaft nach 13 Spielen zu bewerten. Wie fällt ihre Zwischenbilanz aus?

Sehr positiv. Wir haben eine homogene und charakterstarke Mannschaft, die als Team funktioniert. Auf und neben dem Platz, was auch sehr wichtig ist.

Steht der FC St. Pauli tabellarisch dort, wo er bisher hingehört?

Grundsätzlich haben wir unter dem Strich weniger Punkte, als wir verdient gehabt hätten. Letztlich wäre mehr möglich gewesen. Man muss sehen, unter welchen Voraussetzungen die einzelnen Spiele gelaufen sind.

Sie meinen die Häufung von verletzten Spielern?

Wir beklagen uns nicht über Verletzungspech, aber wir haben sehr großes. Wenn man über einen größeren Zeitraum zehn und mehr Spieler zu ersetzen hast, dann ist es etwas, was dir im Trainingsbetrieb und auch in den Spielen fehlt. Es wäre für mich interessant, zu erfahren, zu welchen Leistungen die Mannschaft im Stande ist, wenn sie in Gänze die Trainingswoche und die Spiele bestreiten könnte. Wir haben nicht geklagt, werden es auch nicht tun. Trotz der Situation, die wir haben, haben wir nach meinem Empfinden eher Punkte liegengelassen, als dass wir irgendwo welche glücklich gewonnen haben. In den letzten vier, fünf Spielen habe ich das Gefühl, dass wir da aufgrund der Leistung und Einstellung vier bis sechs Punkte liegengelassen haben. Hätten wir die sechs Punkte mehr geholt, wären wir punktgleich mit Union Berlin auf Platz drei gewesen. Aber gut: Dann müssen wir die Zähler irgendwie anders zurückholen.

Werden Sie bei dem Vorhaben auf Wintertransfers setzen? Eigentlich heißt es ja, wenn man in der Winterpause nachrüstet, hat man im Sommer seine Hausaufgaben nicht gemacht.

Das muss nicht immer so sein. Man muss die Situation und die Perspektive des Teams bewerten. Wir müssen sehen, mit welchen Spielern wir in der Rückrunde planen können und mit wem nicht. Wir werden die Thematik jetzt intern diskutieren und entsprechende Entscheidungen treffen. Die Mannschaft ist aber gut zusammengestellt, leistungs- und wettbewerbsfähig und letztlich eines von neun Teams, das vorn mitspielen kann. Wenn aber dauerhaft Spieler ausfallen, muss man für die Rückrunde die richtigen Schlüsse ziehen.

Kann ein großer Wintertransfer nicht auch eine Signalwirkung in Richtung Aufstiegsambitionen haben?

Ich denke, wir müssen erst einmal schauen, wie die Spiele bis zur Winterpause ablaufen werden. Wir haben noch fünf Spiele. Dann gucken wir, wie die Abstände nach oben oder unten in der Tabelle sind. All das fließt in den Entscheidungsprozess ein, ob wir im Winter etwas machen oder eben nicht.

Die Vorbereitung für Wintertransfers müssten doch bereits laufen, oder?

Man muss grundsätzlich immer vorbereitet sein. Das Rad steht nie still, es ist ein Prozess. Die Sitzungen, die wir mit dem Trainerteam und der Scoutingabteilung haben, sind dafür gedacht, Transferperioden vorzubereiten. Das tun wir sehr gewissenhaft. Es hängt aber auch immer davon ab, ob es unzufriedene Spieler gibt, die sich aufgrund ihrer geringen Einsatzzeit vielleicht verändern wollen.

Gibt es Spieler, die einen Wechselwunsch hinterlegt haben?

Bisher war noch keiner bei mir, um seine Unzufriedenheit auszudrücken. Das zeigt auch, dass die Mannschaft lebt und sich die Spieler hier wohlfühlen. Aber ausgeschlossen ist es bis Weihnachten nicht, dass es Abgänge geben könnte, wenn jemand sieht, dass die Perspektive, die er sich vorgestellt hat, nicht eintrifft. Oder wenn wir als Verein sagen, dass es vielleicht besser ist, eine Veränderung herbeizuführen. Dann setzen wir uns zusammen, aber bisher ist das nicht der Fall.

Aber der Verkauf von Leistungsträgern wie Lasse Sobiech, dessen Vertrag im kommenden Sommer ausläuft, ist ausgeschlossen? Im Winter könnte der Verein noch ein letztes Mal eine Ablösesumme generieren.

Der Verein ist in der wirtschaftlichen Situation, dass er niemanden verkaufen muss. Das ist eine gute Ausgangsposition. Er kann jemanden verkaufen, muss es aber nicht.

In den nächsten beiden Jahren laufen viele Verträge aus. Steht der FC St. Pauli vor einem radikalen Umbruch?

Die Verträge, die im Sommer auslaufen, sind überschaubar. Das ist ein rollierendes System. Ein Drittel der Verträge läuft im kommenden Sommer aus, ein weiteres Drittel im Jahr darauf und so weiter. Das ist nicht ungewöhnlich. Für die Verträge, die 2019 auslaufen, haben wir jetzt anderthalb Jahre Zeit, entsprechend einzuwirken. Ich sehe weder einen bevorstehenden Umbruch noch ein Umwälzen in einer groben Form. Es hängt natürlich maßgeblich davon ab, mit welchen Spielern man verlängern kann und mit welchen nicht. Grundsätzlich sind wir mit allen Spielern sehr zufrieden. Wir sind mit allen Spielern, deren Verträge im kommenden Sommer auslaufen, in Gesprächen. Sie wissen, wie wir denken, und wir wissen, was die Jungs denken. Und da wird man abwarten, was das für die Sommerperiode 2018 bedeutet. Für 2019 haben wir noch Zeit, die Situationen für uns zu bewerten.

Es ist kein Geheimnis, dass Spieler wie Lasse Sobiech, der im besten Fußballalter sind und seine Qualität Woche für Woche beweist, bei finanzstärkeren Vereinen auf der Wunschliste stehen. Mit welchen Argumenten wollen Sie die Leistungsträger halten?

Ich glaube, dass die Jungs wissen, was sie an uns haben. Lasses Arbeitspapier läuft im Sommer aus. Ich brauche nicht zu betonen, dass Sobiech ein Topspieler der Zweiten Liga ist. Er hat ein Ziel für sich formuliert, dass Erste Liga heißt. Das ist völlig normal. Wir werden alles tun, um Lasse im Verein zu halten, ob es uns gelingt, kann ich nicht sagen, da ich kein Hellseher bin. Beide Parteien wissen aber voneinander, wie die Situation ist. Jetzt müssen wir schauen, ob wir zusammenkommen. Schwierig wird es dann, wenn finanzstarke Vereine aus der Bundesliga oder dem Ausland sich in den Wettbewerb mit einschalten. Das ist aber der Lauf der Dinge, so ist der Markt.

Trainer Olaf Janßen hat kürzlich gesagt, dass er das Saisonziel „unterm Tannenbaum“ formulieren will. Ist das auch Ihre Linie, und wie würde das Saisonziel lauten, wenn jetzt schon Weihnachten wäre?

Ich war schon im Juli mit eingebunden, als wir vereinbart haben, das Ziel in der Winterpause zu nennen. Nach 18 Spielen wissen wir, wo wir stehen und welche Perspektive wir haben. Zum jetzigen Zeitpunkt macht das keinen Sinn. Wir und die anderen haben noch fünf Spiele bis Weihnachten zu bestreiten. Wenn wir die Spiele erfolgreich bestreiten, wird die Bewertung anders ausfallen als heute.

Planen Sie im Hinblick auf Transfers im kommenden Sommer zweigleisig, also für den Aufstiegsfall und für den Fall, in der Zweiten Liga zu bleiben?

Wichtig ist vor allem, dass man einen Überblick über diesen Markt hat und dass man in jede Richtung auch entsprechend schnell reagieren kann.

Ist der FC St. Pauli ein Ausbildungsverein, der Spieler entwickelt, bis ein größerer Club kommt und diese wegholt?

Wenn Sie das so formulieren, wären in Deutschland 35 von 36 Profivereinen Ausbildungsvereine. Dann wären wir einer von diesen 35. Ich verstehe aber unter einem Ausbildungsverein etwas anderes. Wenn wir es schaffen könnten, im Verein so viele Spieler zu formen, dass sie regelmäßig zur Übernahme in die erste Mannschaft bereitstehen, dann würde ich uns als Ausbildungsverein bezeichnen. Das sind wir aber in der Form nicht. Wir transferieren fertige Spieler zum Verein und fertige Spieler wieder weg vom Verein.

Wie bewerten Sie das NLZ des FC St. Pauli und die Zusammenarbeit mit den Leitern Roger Stilz und Alexander Bachmann?

Die Zusammenarbeit ist sehr gut. Was die Durchlässigkeit angeht, zeigt es im Moment ein anderes Bild als in den vergangenen Jahren. Mit Schneider, Litka, Choi, Park und Brodersen kommen jetzt doch schon einige Spieler des Profikaders aus den eigenen Reihen. Daran müssen wir weiter arbeiten. Wir müssen in der Qualität der Ausbildung noch weiter verbessern, um in Zukunft noch mehr Spieler aus dem NLZ für das Profiteam generieren zu können.

Bereitet es Ihnen Sorge, wie umkämpft der Jugendbereich schon ist?

Grundsätzlich bereitet es mir Sorgen, weil ich immer ein Verfechter davon war, dass ein Kind mit zwölf oder dreizehn Jahren in seinem gewohnten privaten und schulischen Umfeld und unter den Augen der Eltern besser aufgehoben ist als irgendwo in einem Internat, wo es ganz auf sich allein gestellt ist. Durch den Wegfall der freiwilligen Selbstbeschränkung vor acht, neun Jahren, dass sich Proficlubs gegenseitig keine Talente abwerben, ist der Markt für diese Altersgruppe viel umkämpfter geworden. Zudem kann man nicht mehr über Jahre mit einem Spieler konzentriert arbeiten. Ich denke, dass das dem Markt nicht guttut.

Wie wollen Sie sich unter diesen Rahmenbedingungen behaupten?

Unser Weg muss sein, mit Vertrauen, Identifikation und fachlicher Qualität zu überzeugen. Die jungen Spieler müssen das Gefühl haben, dass sie den Übergang vom Junioren- zum Profifußballer beim FC St. Pauli eher und leichter gehen können als bei Vereinen, die mit ihrer ersten Mannschaft die Meisterschaft und den internationalen Wettbewerb anstreben. Wenn die Quote von Spielern, die aus dem eigenen Nachwuchs ins Profiteam gekommen sind, hoch ist, ist dies auch ein Argument, um junge Spieler zu halten.

Welche Entwicklungen im Profifußball sehen Sie besonders kritisch?

Ich finde, dass der Fußball eigenbestimmt sein und bleiben muss. Er darf eine Unterstützung erfahren, muss aber eigenständig handeln können. In der Vergangenheit gab es sehr negative Beispiele, bei denen man das Gefühl hatte, dass die Vereine nicht mehr eigenbestimmt sind. Wenn wir in Deutschland englische Verhältnisse bekommen, wird es an vielen Standorten nicht mehr dieses Zusammenwirken und Verein und Stadtteil geben, wie es beim FC St. Pauli gegeben ist. Je mehr Kommerz eine Rolle spielt, desto mehr geht die Zusammengehörigkeit zwischen Club und den Menschen auseinander.

Kann St. Pauli in diesem Umfeld dennoch erfolgreich bestehen?

Man muss kreativer sein, und vielleicht gibt es ja auch mal Menschen, die einen Verein gerade deshalb unterstützen, weil er seine Verbundenheit zur Basis behalten hat.

Sind Traditionsvereine Fluch oder Segen? Zuletzt waren Sie auch in Kaiserslautern bei einem Verein mit großer Tradition.

Beides ist möglich. Ganz wichtig ist, dass man bei aller Tradition und Erinnerung an frühere Erfolge den Blick für die Realität nicht verliert. Eine Tradition kann einen erdrücken, wenn ich aktuell eine ganz andere Situation und Perspektive habe. Sie kann aber auch beflügeln und einen Neustart einleiten. Man muss die Realität klar darstellen und die so die Leute mitnehmen. Wenn man aber Ziele formuliert, die nicht der aktuellen Situation entsprechen, kann es problematisch werden.