Hamburg. Ein unverschuldeter Unfall zerschlug Lina Bayers Lebensträume. Aber die 30-Jährige will anderen Menschen Mut machen, schon aus Berufung.

Auch dies ist wahrscheinlich nur eine von vielen Schicksalsgeschichten, in denen genau das passiert ist, was wir alle am meisten fürchten: dass sich unser bisheriges Leben, mit dem wir ja eigentlich ganz zufrieden waren, in einem winzigen Augenblick, dem „falschen Moment“, in einen Albtraum verwandelt. Und dennoch ist Lina Bayers Schicksalsgeschichte wohl eine besondere, die man deshalb erzählen sollte.

Sie begann auf einer Landstraße in ihrer Heimat, einem Ort namens Großostheim (das liegt in der Nähe von Aschaffenburg), und Lina, die zu Besuch bei ihrer Familie war, hatte sich gerade ihren Traum vom eigenen Motorrad erfüllt. Eine Harley Davidson Iron mit 883 ccm. Dann aber kam plötzlich dieses Auto, welches einfach ohne ersichtlichen Grund in den Gegenverkehr fuhr. Sekunden später lag Lina Bayer auf der Straße, neben ihr die Harley und obendrauf das Auto. Lina konnte sich noch selbst den Helm abnehmen und nach Hilfe rufen. Doch da wusste Lina noch nicht, dass ihr linker Fuß und ihr linkes Kniegelenk total zertrümmert waren. Zu viel Adrenalin.

Im Moment der Diagnose nur das "Warum?"

Später, nach der ersten Operation, sollte ihr der Chirurg sagen: „Stellen Sie sich ein Puzzle vor, bei dem kein Teil mehr zu einem anderen passt.“ Hinzu kamen beinahe irreparable Nerven-, Knorpel- und Muskelverletzungen. Und so fügte der Chirurg hinzu: „Sie werden nie mehr rennen können, und überhaupt müssen Sie sich auf einen sehr langen Weg einstellen, Frau Bayer.“ Das war wenigstens ehrlich. „In diesem Moment der Diagnose“, sagt Lina, „gab es nur noch die Warum-Frage. Warum musste das ausgerechnet mir passieren?“

Ja, warum trifft ein solcher Schicksalsschlag ausgerechnet eine durchtrainierte, studierte Sportlehrkraft, deren eigenes Hamburger Fitnessunternehmen „Lina Bayer Personal Training“ nach drei Jahren gerade am Durchstarten war? Mit einer mehr als nur zufriedenstellenden Kundenkartei; alle Zeichen deuteten auf Wachstum und nachhaltigen unternehmerischen Erfolg hin.

Vier Stunden Training täglich

Jetzt, acht Monate nach dem Unfall, fünf Operationen und viele, zum Teil sehr schmerzhafte Spezialbehandlungen später, liegt ihre Firma brach, und Lina trainiert jeden Tag mindestens vier Stunden lang ausschließlich für sich selbst, in der City Reha Lange Mühren am Hauptbahnhof. Dabei ist sie umgeben von zahlreichen Leidensgenossen, deren Leben ebenfalls durch einen Unfall oder eine Krankheit pulverisiert wurden oder zumindest für einen überschaubaren Zeitraum empfindlich gestört sein werden.

2012 war Lina nach Hamburg gekommen. Sie unterrichtete zunächst Sport am Albrecht-Thaer-Gymnasium in Stellingen und bastelte nebenbei zielstrebig an ihrer Karriere als selbstständige Fitnesstrainerin. Ihre Wahl auf Hamburg sei deshalb gefallen, sagt Lina, „weil es eine extrem fitnessorientierte Stadt ist. Außerdem leben einige meiner Kollegen und Freunde hier.“

Bayer lebt von Geld der gegnerischen Versicherung

Das hört sich ganz nach einem durchdachten Plan an, und wenn sie nun fröhlich lächelnd sagt, dass sie sowieso ihr ganzes bisheriges Leben lang „immer am Menschen dran gewesen sei“ und „dass Sport und Fitness einfach ihr Ding seien“, dann glaubt man ihr das sofort. Und wenn man sie dann etwas länger betrachtet und eine top-trainierte, junge und attraktive Frau auf einer Gymnastikmatte liegen sieht, die mit konzentrierter Miene anstrengende Reha-Übungen absolviert, dann ahnt man, wie aufgewühlt ihr Innerstes sein muss. Dann, wenn sie sich im nächsten Augenblick zum wiederholten Male die Frage stellt: „Was soll mir das jetzt alles bringen? Wo ist die Tür, die zufällt, wo ist die Tür, die aufgeht?“

Zurzeit lebt Lina von den Vorschüssen, die ihr die gegnerische Haftpflichtversicherung zahlt, denn die Schuldfrage des Unfalls ist einwandfrei geklärt. Aber diese Zahlungen sind nur ein Anfang und betreffen zunächst die Erstversorgung. Über Schmerzensgeld, Verdienstausfall oder eine lebenslange Opferrente kann ja noch nicht endgültig entschieden werden. Vielleicht droht sogar noch eine juristische Auseinandersetzung, weil es für die Versicherung sehr teuer werden kann: Lina ist schließlich erst gerade mal 30 Jahre alt geworden. Sie hat also noch viele Lebensjahre vor sich, und alles, was sie zurzeit tut, dient in erster Linie dazu, die Implantation eines künstlichen Kniegelenks so weit wie möglich hinauszuzögern.

Drei bis vier künstliche Kniegelenke nötig

In der fünften großen Operation vor zwei Wochen mussten zahlreiche Schrauben und Platten entnommen werden, da aufgrund der Masse an Metall der Knochen zu wenig durchblutet wurde. Die notwendige Festigkeit soll jetzt durch körpereigene Knorpelmasse aus ihrem Becken erreicht werden, die ins Kniegelenk implantiert werden wird.

Eins ist jedoch klar: Früher oder später wird das künstliche Gelenk kommen. „Selbst bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung werden mir noch mindestens drei bis vier künstliche Kniegelenke eingepflanzt, und es ist darüber hinaus nicht sicher, ob sich langfristig nicht auch andere Teile meines Bewegungsapparats zu meinen Ungunsten verändern“, sagt Lina, doch selbst in diesen Momenten bemüht sie sich darum, Zuversicht auszustrahlen, für sich selbst, aber eben auch für andere Menschen mit einem ähnlichen Schicksal.

Sinnspruch von Victor Hugo half Lina Bayer

„Was mich antreibt und was ich jedem nur wünschen kann“, sagt sie ernst, „ist, einen inneren Willen zu entwickeln und zurück in die Kindheit zu reisen. Kinder, die noch nicht laufen können, versuchen das doch trotzdem immer wieder, bis sie es schaffen. Also lerne auch ich gerade, so wie Peter Pan mit offenen Augen und unerschrocken neugierig meinen neuen Platz in der Welt zu finden. Ich will rauskriegen, was ich zukünftig noch machen kann, ich will an meine Grenzen stoßen. Erwachsene aber laufen leider häufig Gefahr, liegen zu bleiben, nachdem sie ein paar Mal hingefallen sind.“

Für ihre Familie und ihre Freunde, nicht zuletzt auch für ihre Ärzte und Therapeuten, „grenzt es an ein Wunder“, wie weit Lina in nur sieben Monaten sich ins Leben zurückkämpfen konnte. Dabei, meint sie, habe ihr natürlich auch ihre Fitness geholfen, die sie bereits vor ihrem Unfall besaß. Aber dann las sie neulich auf ihrer eigenen Facebook-Seite einen Sinnspruch des französischen Dichters Victor Hugo, den sie vor fünf Jahren selbst gepostet hatte: Die Zukunft hat viele Namen. Für die Schwachen ist sie das Unerreichbare. Für die Furchtsame ist sie das Unbekannte. Für die Tapferen ist sie die Chance. Und sie sagt: „Jetzt erst habe ich diesen Spruch verstanden.“