Der Gründer des Theaters Sprechwerk verwendet gern Vergleiche aus dem Fußball, auch bei seiner Körpergröße.

Er ist ein Mann des Subtextes. Das Studium der deutschen Sprache sowie der Literatur und Kunstgeschichte war ausgedehnt, lautet die Formulierung in seiner Biografie. Tatsächlich waren es 18 Semester. „Für die heutige Generation Regelstudium ist das ein kaum vorstellbarer Zeitraum“, sagt Andreas Lübbers, 54. „Aber so war das damals. Ich hatte eine tolle Uni-Zeit mit wenig Druck. Ich habe es genossen, ausgiebig zu studieren.“ Und zu leben.

Es macht Spaß, mit Andreas Lübbers zu plaudern. Den Gründer des freien Theaters Sprechwerk, der sich zudem als Regisseur und Dramaturg an diversen Bühnen in Deutschland einen Namen erarbeitet hat, zeichnet eine gesunde Distanz zu seiner Branche aus. Vor allem aber nimmt er sich selbst nicht zu ernst. Als der Fotograf vorschlägt, sich auf den Empfangstresen im Vorraum zur Bühne zu setzen, holt er schnell einen Stuhl herbei und steigt hinauf. „Ich bin bei der Verteilung der Körpergröße etwas zu kurz gekommen“, sagt er. „Da ist man über Hilfsmittel froh.“ Die genaue Zahl der Zentimeter bleibt ungesagt weil ungefragt. Stattdessen diese Information: Lionel Messi, Argentinier im Trikot des FC Barcelona, wurde bislang fünfmal zum Weltfußballer gewählt – bei einer Körpergröße von nur 1,69 Metern.

Der Querverweis auf einen Fußballspieler als Vergleichsgröße erfolgt natürlich nicht willkürlich. Auch der Kulturmensch Lübbers ist dem Volkssport und seinen manchmal eher schlicht ausgerichteten Akteuren in gewisser Weise zugetan. „Ich liebe es, sinnentleert vor dem Computer zu sitzen und Live-Übertragungen von Fußballspielen zu sehen“, sagt er. „Dabei kann ich wunderbar entspannen. Allerdings möchte ich nicht mit Reinhold Beckmann darüber reden. Dazu reicht mein Sachverstand nicht.“ Der ehemalige Sat.1-Frontmann veränderte 1992 mit „Ran“ den Fußball zur TV-Show.

Dass Andreas Lübbers mal im Kulturbetrieb landen würde, war nicht wirklich vorhersehbar. Die Eltern betrieben auf der Uhlenhorst einen Blumenladen. Sie wollten zwar nicht, dass der Sohn den mal übernimmt, aber eine solide Kaufmannsausbildung nach dem Abitur sollte es schon sein. „Ich hatte eher die Vorstellung, Biologie zu studieren“, sagt Lübbers, der in seiner Jugendzeit wie viele andere seine Aversion gegen gesellschaftliche Zwänge kultivierte. Dazu gehörte auch Abneigung gegen die Bundeswehr. „Dienst an der Waffe war mir zutiefst zuwider.“ Allerdings konnte man mit dem Nachweis eines Ausbildungsplatzes die damals noch obligatorische Wehrzeit nach hinten schieben. Das machte die Entscheidung leicht. „Die Lehre war im Vergleich zum Wehrdienst das kleinere Opfer.“ Er landete bei der Hamburgischen Landesbank, quälte sich durch die Ausbildung zum Bankkaufmann. Immerhin verdiente er eigenes Geld, zog zu Hause aus und mit der ersten Freundin zusammen. Danach unterschrieb er sogar einen Vertrag als Kredit-Sachbearbeiter mit 1300 Mark Anfangsgehalt. Eine schicke Wohnung rückte in greifbare Nähe.

Noch in der darauffolgenden Nacht kamen die Zweifel. „Ein Leben in einem muffigen Kabuff mit muffigen Kollegen, das sollte es gewesen sein?“ Die Vorstellung von Kernarbeitszeiten, Stempeluhr und betrieblicher Vorsorge ließ ihn an eine Falle denken, aus der Entkommen schwierig war. Doch wo der Geist versagt, präsentiert der Körper eine Lösung. Rheumatische Schübe hatten den Azubi während der Ausbildung schmerzhaft begleitet. Als Folge war er sogar ausgemustert worden. „Ich beschloss, mein Leben zu ändern. Ich wollte etwas Kreativeres tun, als Zahlenkolonnen zu addieren.“

Der Zufall half. Die Schwester machte gerade eine Ausbildung bei Tchibo, wusste, dass dort jemand in der Werbeabteilung gesucht wurde, „und schon hatte ich eine spannende Aufgabe“. Ein Jahr später schrieb Lübbers sich an der Universität ein. „Ich hatte schon in der Oberstufe heimlich Gedichte geschrieben, mich in der Lyrik verloren und im Dadaismus wahnsinnige Begegnungen“, erzählt er. Nun lebte er diese Liebe seines Lebens offiziell aus. Nebenbei jobbte er im Thalia Theater. In den Pausen schenkte er Sekt aus. Das machte er so gut, dass man ihm die Organisation der Pausenbewirtung übertrug. Nach zwei Monaten durfte er die Kühlschränke auffüllen, den Einkauf machen und die Aushilfs-Truppe zur Arbeit einteilen. „Das Geniale aber war, dass ich morgens, wenn ich fertig war, den Theaterproben zusehen konnte.“

Er bestaunte, wie Jürgen Flimms Inszenierung von „Onkel Wanja“ entstand. War dabei, als Robert Wilson und Tom Waits „Black Rider“ auf die Bühne brachten, und war fasziniert von den Künsten großartiger Darsteller wie Will Quadflieg und Hildegard Schmahl. „Mein Zugucken wurde irgendwann zwanghaft“, sagt Lübbers. Mehr noch: „Es machte klick. Plötzlich wusste ich: Meine Bestimmung ist die Theaterarbeit.“ Und zwar hinter der Bühne.

Eines Tages nahm er allen Mut zusammen, betrat das Büro des damaligen Dramaturgen Klaus Missbach, gegenwärtig Chefdramaturg des Wiener Burgtheaters und berüchtigt für sein eisiges Schweigen, mit dem er strafte. „Ich möchte bei Ihnen eine Hospitanz machen“, sagte Lübbers. Missbach guckte, sagte nichts, stand auf und verließ den Raum. Als er 20 Minuten später wiederkam, saß der freche Lübbers immer noch dort. „Na gut“, grummelte Missbach. „Kommste am Montag, pünktlich um zehn.“

In seinem angefüllten Lebenist kaum Platz für Privates

Hartnäckigkeit und Überzeugung zahlten sich aus. „Ich lernte, wie man Texte betrachtet, lange Stücke kürzt, das Wesentliche herausarbeitet.“ Neun Produktionen lang durfte der Neuling bleiben. „So ein großer Störfaktor kann ich nicht gewesen sein“, sagt er heute. Danach wechselte er als Hospitant zum Schauspielhaus, wurde selbstbewusster, traute sich eigene Einschätzungen zu – und verkündete sie. „Aus reifer Rücksicht würde ich sagen, es war nicht immer passend.“ Er schrieb seine Regiearbeit über Marthalers „Goethes Faust Wurzel aus 1+2“, ging zum Berliner Ensemble, Wanderjahre begannen. Doch irgendwann zog es ihn zurück in die alte Heimat.

„Ich muss dir etwas zeigen“, war es wieder die Schwester, die ihm den nächsten Schritt ermöglichte. An der Privatschule Bühnenwerk in der Klaus-Groth-Straße wurde tagsüber gelehrt, wie man Shows richtig beleuchtet, Bühnengerüste aufbaut und Ton- und Pyrotechnik richtig einsetzt. Gründer war Sebastian Hellwig, der ehemalige Leiter des Musicals „Buddy“. Weil die Bühne aber zu wenig genutzt wurde, suchte Hellwig einen Partner – und fand ihn in Heimkehrer Lübbers. Der konnte fortan „befreit von Intrigen und Nickeligkeiten anderswo“ auf eigener Bühne seine Ideen für eine freie Theater-Szene umsetzen. Ganz nebenbei etablierte er sein Theaster damals als Kontrapunkt zu den seiner Meinung nach viel zu angepassten und subventionierten Kampnagel-Produktionen.

13 Jahre ist das jetzt her, und Lübbers hat die Geschicke des Sprechwerks längst in die Hände der ebenso patenten wie kompetenten Konstanze Ullmer, Schauspielerin, Regisseurin und Leiterin, gelegt. Und längst wird auch die Off-Bühne öffentlich gefördert. Demnächst zieht das Theater um. Es wird Teil des großflächigen Umbaus des Sportvereins HT 16 an der Burgstraße. Dort entsteht neben einer neuen Sportanlage und Wohnungen auch ein Kulturzentrum mit Theater und Gastronomie. „Das möchte ich hauptamtlich leiten“, sagt Lübbers.

Designerin und
Agenturchefin
Claudia
Fischer-Appelt
übernimmt den
roten Faden
Designerin und Agenturchefin Claudia Fischer-Appelt übernimmt den roten Faden © HA | Roland Magunia

Aber natürlich schlägt sein Herz auch noch für das Sprechwerk. „Ich hoffe sehr, dass jemand sagt: Du kannst doch aber nicht ganz gehen!“ Auch das Projekt Wiese e. G., ein genossenschaftlicher Zusammenschluss von freien Kunst- und Theatergruppen, muss vorangetrieben werden. Geplant ist ein Kulturzentrum in der ehemaligen Theaterfabrik am Wiesendamm. „Ein Invest in die Zukunft“, sagt Lübbers. „Wir garantieren eine attraktive Beteiligung, die nicht nur Geld, sondern auch Spaß abwirft.“

Dass in einem derart angefüllten Leben kaum Platz für Privates ist, mussten auch diverse Frauen im Laufe der Jahre erkennen. Lediglich seinen Sohn in Berlin sieht er regelmäßig. „Das klassische Familiending ist nicht so mein Konzept“, gibt er zu. Dass dennoch nicht alles im Gleichgewicht ist, signalisiert ihm mal wieder sein Körper. Der geplante Umzug, die Wiese-Aktivitäten, Pläne für eine eigene Regiearbeit, sein Kopf ist voll. Zu voll. Unter dem rechten Auge hat sich ein gefüllter Hautsack gebildet. „Verstopft“, sagt Lübbers. „Das kenne ich schon. Wenn der erste Spatenstich für das Kulturzentrum erfolgt ist, bilden sich die Knubbel zurück.“ So wie auch das Rheuma verschwand, nachdem er sich für einen Neuanfang entschieden hatte. Krankheit als Weg eben.