Der beliebte TV-Moderator spricht vor dem “Tag der Legenden“ über das Thema Jugendgewalt, die Ballung von Armut und Thilo Sarrazin.
Hamburg. Reinhold Beckmann kommt ein paar Minuten zu spät ins Café Paris in die Rathausstraße. "Sorry, es war keine gute Idee, morgens hierher mit dem Auto zu kommen", sagt er dann und bestellt sich das italienische Frühstück. Der 55-Jährige wirkt erstaunlich entspannt. Dabei steckt er mitten in den Vorbereitungen für seine nächste Talkstaffel in der ARD (gestern erste Sendung nach der Sommerpause) sowie für den "Tag der Legenden" , inzwischen eine der größten deutschen Sport-Wohltätigkeitsveranstaltungen.
Am Sonntag (Beginn der Stadionshow um 14.15 Uhr, Restkarten an der Stadionkasse) kicken am Millerntor ehemalige Weltklasse-Fußballer wie Kevin Keegan, Andreas Brehme, Jens Lehmann oder Guido Buchwald für den Verein NestWerk. Seit 1999 lädt NestWerk Kinder und Jugendliche aus sozialen Brennpunkten zu gemeinsamen Sport- und Musikangeboten ein.
Hamburger Abendblatt: Herr Beckmann, hätte aus dem jugendlichen Reinhold Beckmann, aufgewachsen in Twistringen bei Bremen, auch ein Klient für das Projekt NestWerk werden können? Waren auch Sie mal absturzgefährdet?
Reinhold Beckmann : Mit vier Jahrzehnten Abstand jetzt irgendwelche Jugendsünden zu beichten finde ich ziemlich albern. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Nein, ich hatte eine wirklich behütete Kindheit in einer kleinen Stadt mit 7000 Einwohnern. Mein Vater war Futtermittelhändler, meine Mutter Hausfrau, die sich um die drei Kinder gekümmert hat. Ich konnte damals zum Gymnasium, meine älteren Brüder, Jahrgang 1948 und 1951, konnten das noch nicht. So gesehen bin ich ein Kind der Siebziger, der Zeit, als durch die Bildungsoffensive der SPD alles etwas durchlässiger wurde. Heute ist die soziale Abgrenzung vor allem in Großstädten ungleich schärfer. Vielen Jugendlichen in sozialen Brennpunkten bleibt nur die Karriere als Hilfsarbeiter.
Auch in sozialen Brennpunkten gibt es Gymnasien.
Beckmann : Richtig. Aber wer in Kirchdorf-Süd oder Billstedt aufwächst, muss oft schon kämpfen, um sein Leben überhaupt zu organisieren. In Barmbek-Nord zum Beispiel öffnet unsere Partnerschule jetzt schon morgens um 7 Uhr mit einem Frühstück, bevor der Unterricht beginnt.
Aber kann man nicht von allen Eltern erwarten, dass sie ihren Kindern wenigstens morgens etwas zu essen geben?
Beckmann : Das sollte man meinen, doch die Realität sieht anders aus. Es gibt Familien oder auch Alleinerziehende, die mit den einfachsten Dingen des Alltags überfordert sind. Da gibt es Sechsjährige, die mehr oder weniger völlig auf sich allein gestellt sind und sich deshalb selbst organisieren müssen. Wer in Winterhude, Eppendorf, den Elbvororten oder den Walddörfern zu Hause ist, kann sich diese Situation gar nicht vorstellen. Auch die Sprachbarriere ist bei einigen Familien nach wie vor sehr hoch. Wir haben in unseren Projekten mitunter 90 Kinder aus 40 verschiedenen Nationen.
Sollte man Sprachkurse für die Eltern verpflichtend einführen?
Beckmann : Ich wäre dafür, wenn es eine praktikable Lösung gäbe. Das größte Problem sehe ich in der Isolierung der Eltern, weil sie zu schlecht Deutsch sprechen. Ihre Kinder beherrschen die Sprache deutlich besser, was dazu führt, dass sie sich wahnsinnig überlegen fühlen. Sie erleben ihre Eltern als hilflos, was deren Autorität massiv schwächt. Also schaffen sich die Kinder ihre eigene Autorität in ihrer eigenen Welt. Das kann nicht gut sein.
Befürchten Sie langfristig in deutschen Großstädten ähnliche Formen der Jugendgewalt wie in London?
Beckmann : Noch ist zu wenig erforscht, was dort wirklich die Motive der Gewalttäter sind. Aber auch bei uns droht die Gefahr, dass sich durch die Ballung von Armut ganze Wohnviertel abkoppeln und Parallelwelten entstehen. Die Menschen registrieren genau, dass es an der Börse trotz aller Krisen immer noch große Gewinner gibt, die absurde Milliardenbeträge für sich abschöpfen, während Verluste sozialisiert werden. Da darf man sich über Proteste nicht wundern. Wir spüren diesen Frust auch in unseren Projekten. Etwa bei Familien, die sich in Hartz IV eingerichtet haben und keine Motivation mehr spüren.
Sie stehen immer auf der Seite der Verlierer. Ist NestWerk ein Verein für Kuschelpädagogik?
Beckmann : Mit dieser ganzen Befindlichkeits- und Streichelpädagogik kommen Sie in unseren Projekten keinen Deut weiter. Wir haben glasklare Regeln, etwa ein striktes Alkohol- und Drogenverbot in unseren Turnhallen. Wer dagegen verstößt, fliegt raus. Bei schweren Verstößen machen wir auch mal die Halle für ein paar Tage dicht. Für viele ist das die Höchststrafe. Dann knöpfen sich diejenigen, die sich nichts zuschulden haben kommen lassen und dann nicht mehr Fußball spielen können, die Übeltäter vor. Das ist ein Prozess der Selbstregulierung.
Wie oft werden Sie von diesen Jugendlichen massiv enttäuscht?
Beckmann : Auch das kommt mal vor, klar. Aber es überwiegen eindeutig die Erfolgsmomente. Etwa wenn Kinder, die nie die einfachsten Formen des gegenseitigen Respekts erfahren haben, sich mit Handschlag von unseren Pädagogen verabschieden. Wenn Unternehmen, bei denen unsere Jugendlichen Ausbildungsplätze erhalten haben, berichten: Alles läuft gut. Und die sogar diese spezielle Mentalität unserer Jugendlichen schätzen. Weil sie bei Widerständen nicht so schnell aufgeben.
Mädchen haben es in traditionellen Macho-Kulturen oft schwer. Wie steuern Sie dagegen?
Beckmann : Indem bei unseren Straßenfußballturnieren zunächst die Mädchen Tore erzielen müssen, erst dann zählen die Tore der Jungs. Die Mädchen werden dann auch von den größten Machos angespielt, damit ihr Team gewinnt. Wobei viele von ihnen inzwischen richtig gut Fußball spielen, teilweise besser als die Jungs. Inzwischen ist ein Drittel der Teilnehmer beim Straßenfußball Mädchen. In unserem Musikprojekt, dem Jamliner, sind die Mädchen in den Bands ohnehin in der Überzahl.
Aber hat Thilo Sarrazin nicht am Ende doch recht, es gebe einfach zu viele Ausländer, die sich nicht integrieren wollen?
Beckmann : Die Debatte um Sarrazin zeigt unsere ganze Verunsicherung bei den Themen Integration und Einwanderung. Am Anfang wurde die Keule gegen Sarrazin geschwungen. Wochen später folgte der differenziertere Blick auf sein Buch. Und dann gab es die Bravo-Thilo-Rufe. Dabei fällt Sarrazin oft pauschale Urteile und zieht Konsequenzen, die der Sache nicht dienlich sind. Wir sind nun mal ein Einwanderungsland, das sich den Herausforderungen stellen muss.
Was würden Sie ändern, wenn Sie in der politischen Verantwortung wären?
Beckmann : Ich würde dem Sport ein ganz anderes Gewicht geben. Wir erleben es doch in unserer täglichen Arbeit. Sport schafft Gemeinschaft, sorgt für Erfolgserlebnisse, stärkt Sozialkompetenz. Wir haben etwa in unserem Projekt in Rahlstedt einen gehörlosen Fußballer, für den zwei Kumpels die Gebärdensprache erlernt haben, um für ihn zu dolmetschen. Das ist großartig. Der Sport wird in Hamburg politisch wie ein Findelkind behandelt, seit Jahren auf der Wanderschaft von einer Senatsstelle zur nächsten. Das soll einer verstehen. Für einen großen Fehler halte ich auch die Abschaffung des Zivildiensts ...
Sie waren selbst mal Zivi ...
Beckmann : ... ich musste damals noch zur Gewissensprüfung, um den Wehrdienst zu verweigern. In erster Instanz bin ich durchgerasselt. Erst bei der zweiten Verhandlung hat man meine Gründe verstanden und mich ernst genommen. Ich habe dann den Zivildienst in einer Jugendbildungsstätte in Steinkimmen bei Oldenburg absolviert. Das waren für mich sehr wichtige Erfahrungen für mein späteres Leben.
Was sind die größten Herausforderungen für NestWerk?
Beckmann : Unsere Erfahrung zeigt, dass wir dann besonders erfolgreich sind, wenn wir wirklich langfristig arbeiten. Wir müssen Verlässlichkeit garantieren. Wir dürfen uns deshalb nicht verzetteln, nicht zu schnell wachsen, nicht zu viele Projekte auf einmal anschieben. Außerdem ist die Sponsorensuche schwieriger als noch vor fünf, sechs Jahren. Manche Unternehmen müssen aus wirtschaftlichen Gründen ihr Engagement zurückfahren. Deshalb ist der "Tag der Legenden" am Sonntag für uns finanziell so wichtig, denn daraus bestreiten wir einen großen Teil unseres Jahresetats.