Hamburg. Der WM-Zweite im Beachvolleyball ist mit seinem Partner Clemens Wickler die deutsche Hoffnung für Tokio 2020.
Die Bilder schwirren immer noch in ihren Köpfen herum. Endspiel der Weltmeisterschaft am Hamburger Rothenbaum. Das Tennisstadion ist am 7. Juli mit 12.000 Zuschauern bis zum letzten Sitzplatz gefüllt. Mehr Menschen kamen noch nie zu einem Beachvolleyballspiel. Die Ersten stehen um acht Uhr morgens vor den verschlossenen Toren an der Hallerstraße Schlange. Das Finale am Nachmittag dauert epische 75 Minuten. Jeder Punktgewinn der beiden Hamburger Julius Thole und Clemens Wickler wird auf den Rängen frenetisch bejubelt. Gänsehaut-Atmosphäre. Am Ende aber siegen die Russen Wjatscheslaw Krasilnikow/Oleg Stojanowski nach drei umkämpften Sätzen mit 2:1. Das Publikum feiert das junge Duo des Eimsbütteler Turnverbandes (ETV) für seinen grandiosen Auftritt minutenlang mit Standing Ovations.
Im Februar 2018 begann die Reise durch die Beachvolleyballwelt
„Das waren unbeschreibliche Momente, Emotionen, die ich, die wir unser Leben lang nicht vergessen werden“, sagt Thole. Und selbst im Abstand von nun fast acht Wochen hängen seine Gedanken manchmal noch dem einen oder anderen Ball hinterher, „den wir besser hätten abwehren, blocken oder schlagen können“. Zwei, drei andere Entscheidungen – und die Weltmeister hießen wohl Thole/Wickler. Wehmut schwinge da nicht mit, sagt Thole, „Vizeweltmeister war doch weit, weit mehr, als wir vor diesem Turnier erwarten durften“.
Als Julius Thole und sein Spielpartner Clemens Wickler Anfang Februar 2018 ihre Reise durch die Beachvolleyballwelt beginnen, stellen gerade mal ein Dutzend Bekannte und Verwandte ihre Klappstühle in den Sand des BeachCenters am Dulsberger Alten Teichweg. Ein Ausscheidungsmatch gegen das Nationalteam Philipp Arne Bergmann/Yannick Harms vom TC Hameln ist in der Halle angesetzt. Der Sieger darf zwei Wochen später beim Weltserienturnier auf Kish Island, einer Ferieninsel am Persischen Golf, in der Qualifikation aufschlagen. Thole/Wickler gewinnen das Duell, gelten fortan beim Deutschen Volleyball-Verband (DVV) als Perspektivteam für die Olympischen Spiele 2024 in Paris.
Den deutschen Meistertitel am Timmendorfer Strand verteidigen
Nur sechs Monate später überholen sie den skizzierten Zeitplan, werden am Rothenbaum Vierter des Welttourfinales, einer Art Mini-WM. Seitdem sind sie die Hoffnungsträger des Verbandes für Olympia 2020 in Tokio. In der Weltrangliste haben sie sich vom 65. auf den sechsten Platz gebaggert, die Qualifikation für die Sommerspiele in Japan kann ihnen kaum noch genommen werden. Schon in der nächsten Woche in Rom dürften sie die letzten dafür nötigen Punkte sammeln. Zunächst aber wollen sie an diesem Wochenende am Timmendorfer Ostseestrand ihren im Vorjahr gewonnenen deutschen Meistertitel verteidigen. „Timmendorf ist nach der WM der zweite emotionale Höhepunkt in dieser Saison“, sagt Thole.
Leistungssport ist heute weit mehr, als talentierte Sportler und gute Trainer zusammenzuführen. Wie ein Erfolgsmodell aussehen kann, haben die Hamburger Beachvolleyballerinnen Laura Ludwig und Kira Walkenhorst schon vor sieben Jahren gezeigt. Ihr Konzept dient der Sportart als Blaupause.
Ein Team nationaler Experten um sich versammelt
Auch Thole/Wickler haben wie das ehemalige HSV-Duo ein personell ähnlich besetztes Team nationaler Experten um sich versammelt, die Besten ihres Fachs: Psychologen, Physiotherapeuten, Kraft- und Techniktrainer, Spielbeobachter, das alles bei ihnen unter der unprätentiösen Koordination des Slowaken Martin Olejnak, dem Chefbundestrainer am Hamburger Bundesstützpunkt. Ludwig/Walkenhorst werden Olympiasiegerinnen, Welt- und Europameisterinnen, gewinnen alles, was es im Sand zu gewinnen gibt. Die Vizeweltmeister Thole/Wickler schicken sich nun an, ihnen nachzueifern. Mit 22 und 24 Jahren stehen sie am Anfang ihrer Entwicklung.
Als sich Ludwig/Walkenhorst 2012 für ihr Projekt „Gold“ entschieden, sind sie bereit, alles in ihr Ziel zu investieren: Zeit, Ehrgeiz, Energie, Geduld, auch eigenes Geld. Weil es heute wahrscheinlich keinen effizienteren Weg in die Weltspitze gibt als hochprofessionelle Insellösungen dieser Art. Auch Thole/Wickler machen kaum Kompromisse, sind Profis. Beide studieren aber nebenbei, Thole Rechtswissenschaften, der in Starnberg (Oberbayern) geborene Wickler Wirtschaftswissenschaften.
Markus Dieckmann erkennt sein Talent
Zu dürr, im Rumpf nicht stabil genug, zu dünne Arme, das sind die Urteile über den heute 2,06 Meter großen Thole, als er vor gut fünf Jahren das erste Mal als Volleyballer, damals auch noch in der Halle, national auf sich aufmerksam macht. Markus Dieckmann (43), der ehemalige Beachvolleyball-Europameister, erkennt sein Talent, lädt ihn zu seinen Camps nach Düsseldorf ein.
Wickler trainiert bereits länger bei ihm. Dass beide später einmal zusammenspielen werden, sei damals nicht abzusehen gewesen, behaupten sie. Erst im Herbst 2017 werden sie nach dem Umweg über andere Spielgefährten auf Empfehlung des Bundestrainers Partner eines von vier neuen Männer-Nationalteams. Dieckmann bleibt aber ihr persönlicher Coach.
Das Studium gibt ihm das Gefühl von Unabhängigkeit
Karrieren in einer finanziell überschaubar ausgestatteten olympischen Sportart wie Beachvolleyball sind in Deutschland meist nur mit Unterstützung des Elternhauses möglich. Das steht bei den Tholes im Hamburger Stadtteil Groß Borstel. Vater Bernhard (53), Anwalt und Steuerberater, der 1989/90 mit dem GSV Osnabrück eine Saison (erfolglos) in der Hallenvolleyball-Bundesliga spielte, und Mutter Julia (51) begleiten den sportlichen Weg ihrer Söhne Julius und seines zwei Jahre jüngeren Bruders Konrad, 2,12 Meter groß. Sie sind häufiger bei Turnieren und Punktspielen dabei, in Verbindung mit Urlaub auch mal im Ausland. Bis zum 14. Lebensjahr spielen beide Kinder auch Tennis und Fußball, dann fällt die Entscheidung für Volleyball, bei Konrad für die Halle. Er gehört zum Kader des Bundesliga-Spitzenclubs SVG Lüneburg.
Die Eltern greifen nicht in die Karriereplanungen ihrer Söhne ein, raten jedoch vom Besuch eines Sportinternats ab. „Vielleicht hätte ich dort die Lust am Volleyball verloren“, sagt Julius Thole, „wenn dein ganzes Leben schon früh auf den Sport fokussiert wird, droht der Spaß abhandenzukommen.“ Auf der katholischen Sophie-Barat-Schule am Dammtor macht er ein 1,2-Abitur, beginnt Jura zu studieren. „Auch wenn ich nur in den Wintermonaten einigermaßen Zeit für die Uni finde, gibt mir das Studium doch ein Gefühl von Unabhängig- und Gelassenheit. Ich bin dadurch nicht um jeden Preis auf den sportlichen Erfolg angewiesen.“
Im Seminar lernte er vor vier Monaten seine Freundin kennen
In Rechtswissenschaften gibt es in Hamburg keine Regelstudienzeit. Wird das erste Examen jedoch nicht nach neun Semestern in Angriff genommen, verfällt die Chance, die Note mit einer zweiten Prüfung zu verbessern, der sogenannte Freischuss. Er sei im achten Semester „auf dem Stand des fünften“, sagt Thole; für einen Weltklassesportler ein beachtliches Fortkommen. Im Seminar lernte er vor vier Monaten seine Freundin kennen. „Das war vor der WM“, betont Thole und lacht herzlich.
Klug, analytisch, zielstrebig, verlässlich, eloquent beschreibt ihn sein Umfeld. Niclas Hildebrand, der Sportdirektor Beach des Deutschen Volleyball-Verbandes, nennt ihn „den Beachvolleyball-Professor“. Julius Thole habe immer einen Plan, arbeite den konsequent ab, er sei selbstkritisch, reflektiert, baue allmählich die nötigen Muskelpakete in den Beinen, am Bauch, in den Armen auf, sagt Hildebrand. „Was ich besonders an ihm schätze, ist, dass er bei aller Rationalität im entscheidenden Moment emotional reagieren kann, sich mal eine Gelbe Karte beim Schiedsrichter abholt, um noch ein bisschen mehr Adrenalin für sich und seinen Partner freizusetzen.“
Wickler gefällt, „dass Julius immer eine klare Sprache spricht“
Clemens Wickler stimmt dem zu. Ihm gefällt, „dass Julius immer eine klare Sprache spricht, gradlinig ist, Problemen nie ausweicht, auch unangenehme Aufgaben und Aussprachen auf sich nimmt“. Natürlich komme es wie in jeder Zweierbeziehung zu Konflikten, „aber wir können uns danach immer noch in die Augen sehen. Und am wichtigsten: Wir wissen, dass der andere alles für den gemeinsamen Erfolg tut.“ Das ist im Beachvolleyball keine Selbstverständlichkeit. Viele Paare führen eine Geschäftsbeziehung, gehen sich außerhalb der Courts aus dem Weg, fliegen getrennt zu Turnieren. Die Schweizer Brüder Martin und Paul Laciga, 1999 Vizeweltmeister, redeten sogar irgendwann nicht mehr miteinander, erfolgreich blieben sie dennoch.
Eines will Wickler dann doch noch loswerden: „Wenn Sie über Julius schreiben, erwähnen Sie bitte, wie unordentlich er ist. Unser Hotelzimmer ist meist nach wenigen Stunden verwüstet.“ Eine glatte Lüge sei das, widerspricht Thole augenzwinkernd, eine Verdrehung der Tatsachen.
Die Wahrheit ist, dass sich beide nach wie vor ein Hotelzimmer teilen und auch nicht vorhaben, dies in absehbarer Zeit zu ändern. Es ist schließlich mehr als der Erfolg, der die beiden Vizeweltmeister verbindet.
Nächste Woche: Cord Wöhlke, Inhaber der Drogeriekette Budnikowsky