Die Grafikdesignerin Kirsten Lehm hat früh erkannt, dass das irrwitzige Tempo der heutigen Zeit nicht guttut. Das Abendblatt hat sich mit der erstaunlich weisen jungen Frau getroffen.
Kirsten Lehms Visitenkarte weist sie als Creative Director aus. Und der Name der internationalen Designagentur klingt schon mal ziemlich imposant: Perfect Day. Aber dann das – ein Studio in einem ehemaligen Krämerladen am Venusberg, hinter den streifenfreien Panoramascheiben ein nüchterner Konferenztisch, drum herum aufgepeppte Küchenstühle aus den 50ern, ein Doppelschreibtisch, sehr funktional und aufgeräumt, eine winzige Pantry – und ganz wenig Design an den Wänden.
Am Konferenztisch sitzt die Kreativdirektorin vor einem Laptop. Kirsten Lehm ist 33, hoch gewachsen, schlank, sportlich und so gut wie ungeschminkt. Für ihren Berufsstand ist sie geradezu farbenfroh gekleidet: Denn sie trägt außer dem für Designer obligatorischen Schwarz ein weißes T-Shirt unterm Blazer. Die Chefin bedient selbst: Kirsten Lehm offeriert Pfefferminztee und veganes Bananenbrot mit Haselnüssen.
„Wir sind vom Brook in der Speicherstadt hierher umgezogen“, sagt sie und schaut sich um, „denn wir haben uns gefragt, ob wir wirklich so viel Platz in einem Loft benötigen.“ Schließlich habe die Hamburger Dependance von Perfect Day außer ihr nur drei mehr oder weniger feste Mitarbeiter, dazu stießen, je nach Projekt, freie Kreative.
Die eingebackenen Haselnüsse im Bananenbrot sind knackig. Kirsten Lehm schaut hinaus durch den elenden Januarregen hinunter auf das „Schiff“, das der Gruner+Jahr-Verlag am Baumwall auf Kiel gelegt hat. „Heute ist zwar kein perfekter Tag“, sagt sie und lächelt, „aber wenn die Bäume grün sind und die Sonne scheint, haben wir hier drin ein wunderbares Licht, und es ist auch herrlich ruhig.“ Vermutlich genau das richtige Pendant, um im rasanten und zunehmend schwierigen Geschäft des Webdesigns bestehen zu können. Weil die Konkurrenz nicht nur groß ist, sondern parallel mit der zunehmenden Bedeutung des Internets wächst.
20 Jahre gibt es Perfect Day bereits, vier Jahre in Hamburg. In der Öffentlichkeit zwar eher unbekannt, in der Szene jedoch gilt „das Büro“ (Designer ziehen die Begriffe „Büro“ oder „Studio“ dem Titel „Agentur“ vor) als kleine, aber feine Größe. „Wir sind schon ein wenig stolz darauf, dass wir uns beim Pitch um den Etat des Hamburger Ensembles Resonanz gegen eine große Hamburger Werbeagentur durchgesetzt haben“, sagt Kirsten Lehm, „für uns ist das so was wie ein Ritterschlag. Es war aufregend, dass wir zum ersten Mal eine solch große City Light-Kampagne gestalten konnten, aber natürlich kümmern wir uns auch um alle Drucksachen, bis hin zum kleinen Sticker.“ Als Perfect Day gegründet wurde, habe das Auftragsverhältnis vom Print- zum Webdesign übrigens noch 80 zu 20 betragen, erzählt Kirsten Lehm, heute sei es genau umgekehrt.
Vor 20 Jahren, als das Internet auch noch nicht eine solch dominierende Rolle spielte wie heute, war sie 13. Aber sie sei schon als Teenager ein „Nerd“ gewesen, erzählt sie, ein Mädchen, das sich für Computer, fürs Malen und für Gestaltung interessierte und das mit einem Freund stundenlang vorm Computer saß und versuchte, „Buchstaben einzufärben und zum Blinken zu bringen“. In den folgenden Jahren begann Kirsten Lehm, neben dem Gymnasium für erste kleine Firmen Websites zu entwerfen und zu bauen. Für ein Taschengeld. Und als sie 2000 ihr Abitur am Lessing-Gymnasium in Norderstedt in der Tasche hatte, stand für sie fest, dass sie Grafikdesign studieren werde.
Das technische wie auch das künstlerische Verständnis hat sie von ihren Eltern geerbt: Die Mutter, die vor vier Jahren starb, war Architektin gewesen – „dieser Beruf ist ja auch eine Symbiose aus technischem Verständnis und Kreativität“ –, der Vater arbeitet heute noch als Bauingenieur. Die ersten neun Jahre ihres Lebens hat sie, die mit einer jüngeren Schwester aufwuchs (welche heute ebenfalls als Grafikdesignerin in Berlin arbeitet), in Greifswald an der Ostsee verbracht. An den Wochenenden und in den Ferien besuchte die Familie häufig Kirsten Lehms Urgroßmutter, die bei Heringsdorf auf Usedom in einem alten, reetgedeckten Bauernhaus lebte. In Strandnähe. Erst nach der Wende kamen die Lehms nach Hamburg, aber ihre Liebe zum Meer und ihren Hang zu ländlichen Idyllen nahm Kirsten mit in den Westen, konservierte beides und lebt dies heute aus.
Zunächst studierte sie ihr Wunschfach an der privaten Design Factory in Hamburg. Dann arbeitete sie bei Scholz & Friends, „aber ich spürte bald, dass eine Werbeagentur nicht meinen Vorstellungen entsprach“, sagt sie. Kirsten Lehm hatte für sich erkannt, dass sich die traditionellen Werte des Lebens rasant veränderten. „Den Job fürs Leben, die Karriere, später vielleicht Kinder kriegen und eine Familie gründen, ein noch größeres Auto kaufen und ein Haus abbezahlen: Nee, das ist nicht das Ding meiner Generation“, sagt sie.
So zog es sie plötzlich hinaus in die Welt; zunächst ins südenglische Portsmouth, wo sie ihre Basiskenntnisse der digitalen Gestaltungsmöglichkeiten mit einem Zusatzstudium vertiefte. Ihr Ziel damals hieß London: „Ich wollte unbedingt als Designerin in dieser Stadt arbeiten, mich von internationalen Kunden und Kollegen inspirieren lassen.“ Perfect Day gab der jungen Deutschen einen Job. Und von Anfang an mehr Verantwortung, als sie erwartet hatte. „Mut und Design passen ja gut zusammen. Und in London lässt man auch die jungen Leute einfach erst mal machen. In Deutschland ist diese Denke leider noch nicht so weit verbreitet“, sagt sie.
Drei Jahre arbeitete sie auf der Insel, lernte auch, wie man Kunden davon überzeugt, sogar größere Summen in einen Webauftritt zu investieren, wo doch inzwischen beinahe an jeder Ecke mehr oder minder begabte Webdesigner den zumeist ahnungslosen Kunden das Blaue vom Himmel versprachen und dafür bloß „Peanuts“ kassieren wollten. „Die Standardisierung nimmt leider zu. Für 35 Dollar kann man ein ,Template‘ runterladen, und fertig ist der Blog! Heute kann jede Corporate-Schrift genutzt werden. Dabei könnte man sehr vieles besser gestalten. Aber die Bereitschaft der Unternehmen, Geld für einen maßgeschneiderten Webauftritt auszugeben, ist häufig nicht da.“
Doch was ist eigentlich „gutes Design“? Kirsten Lehm überlegt einen Moment: „Gutes Design? Ja, es sollte in erster Linie zielführend sein“, sagt sie dann, „es soll Informationen vermitteln und die Kunden leiten. Am Ende sollen sie im besten Fall natürlich einen Button klicken und ein Geschäft abschließen. Und das ist messbar.“
In ihrer Londoner Zeit spürte sie aber auch, wie das Geschäft immer schneller wurde. Wie immer neue Trends das Tempo ihres Lebens bestimmten, das in London eh schon atemberaubend ist. „Allein schon die U-Bahn“, sagt Kirsten Lehm und winkt lächelnd ab, „darin wird man sozusagen gelaufen. Man fühlt sich machtlos und fremdbestimmt.“ Außerdem sei sie in London viermal umgezogen, von einer WG in die nächste. Die Wohnungssituation sei ja dort prekär, ungefähr so wie in Hamburg (wo Kirsten Lehm am Rande des Schanzenviertels wohnt). „Wobei es natürlich auch Spaß gemacht hat, mit vier Nationen unter einem Dach in einem dieser typischen Reihenhäuser mit kleinem Garten zu leben.“
Doch ihre unterdrückte Sehnsucht nach der Idylle, nach etwas mehr entschleunigtem Leben vielleicht, kroch damals unaufhaltsam in ihr hoch. Wo doch auch im Internet alle paar Wochen ein Trend den anderen abzulösen begann – was bis heute der Fall ist. „So glaubt jeder, sich immer wieder neu profilieren zu müssen. Dass man sehr langfristig seine Hand auf der Marke haben sollte, das wurde früher besser gemacht. Die Schnelllebigkeit wird zu hoch eingeschätzt.“ Und das aus dem Mund einer jungen, modernen Frau am Puls der Zeit.
Sie vermisste ihre Familie, ihren Freundeskreis – und die Nähe zum Strand. So entschied sie sich dafür, Tempo rauszunehmen und London zu verlassen. „Ich sagte mir: Das darf nicht ewig so weitergehen. Also fanden wir eine naheliegende Lösung – die Dependance von Perfect Day in Hamburg!“
Seit knapp vier Jahren findet sie neben ihrem Job daher wieder die Zeit, sich ihrer eigentlichen Lieblingsbeschäftigung zu widmen: dem Wassersport. „Ohne Segeln, Windsurfen und Wellenreiten geht es einfach nicht“, sagt Kirsten Lehm, die Ende des Monats nach Bali fliegen wird – zum Surfen. Allein, da sie zurzeit Single sei. Diese Unabhängigkeit sei schön, aber das heiße nicht, dass sich das nicht auch wieder ändern könnte, obwohl sie diese Bemerkung keinesfalls als „Bewerbungsgespräch“ verstanden wissen will. „Vielleicht bleibe ich auf Bali hängen und eröffne eine Surfschule“, sagt sie und grinst spitzbübisch, „vielleicht aber wohne ich auch in zehn Jahren auf einem Bauernhof in Mecklenburg-Vorpommern. Oder ich segle einfach um die Welt. Ich glaube jedenfalls nicht, dass ich das, was ich gerade tue, immer bis zum Ende meines Lebens machen werde. Ich suche neue Herausforderungen – und dabei will ich immer wieder was Neues lernen.“
Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbild gelten. Kirsten Lehm bekam den Faden von Boris Herrmann und gibt ihn an Elisa Erkelenz weiter.