Esther Bejarano aus Groß Borstel entging in Auschwitz dem Tod, weil sie ins Mädchenorchester aufgenommen wurde. Musik ist auch das Mittel, mit dem sie heute gegen Neonazis kämpft.
Esther Bejarano, 89, sitzt auf dem Klavierhocker in ihrer gemütlichen Wohnung in Groß Borstel und hat sich das Akkordeon umgeschnallt. Die kleine Frau mit den kurzen weißen Haaren und den wachen Augen trägt schwer an ihm. Dann beginnen ihre Finger langsam über die Tasten zu streichen. Erst vorsichtig, dann immer kräftiger. Sie zieht das Instrument auseinander. Mit der rechten Hand spielt sie eine kleine Melodie. Die Finger der linken Hand suchen die Akkorde, die sich unter den vielen schwarzen Knöpfen verbergen. Ein fröhliches Lied erklingt. Esther Bejarano lächelt.
Vor 71 Jahren haben ihre Finger schon einmal die Akkorde unter den kleinen schwarzen Knöpfen gesucht.
Esther war 18 Jahre alt, als sie am 20. April 1943 mit mehr als 1000 jüdischen Menschen in Viehwaggons in Auschwitz ankam. Viele hatten den Transport nicht überlebt. Als die ausgemergelten Menschen aus den Zügen stiegen, sollten sie zu einem großen Tor marschieren. „Arbeit macht frei“, stand dort. Dahinter warteten Männer in SS-Uniformen. „So, ihr Saujuden, jetzt zeigen wir euch mal, was arbeiten heißt.“
Esther musste sich nackt ausziehen. Ihr wurden die Haare geschoren. Jedem Häftling wurde eine Nummer auf den linken Arm tätowiert. „Ich bekam die 41948.“ Sie verlor ihren Namen und wurde zur Nummer.
Viele Jahre später, als Esther Bejarano in das Land der Täter zurückgekehrt war und sich mit ihrem Mann Nissim in der Harkortstraße in Altona mit einer Wäscherei selbstständig gemacht hatte, kam ein Kunde in den Laden und fragte sie: „Sag mal, hast du dir die Nummer eintätowieren lassen, damit dein Mann dich in die Waschmaschine stecken kann?“ Und als sie einmal in Berlin mit der U-Bahn gefahren ist und nach dem Weg gefragt wurde, hat sie geantwortet, sie sei keine Berlinerin. „Da hat ein Mann gesagt: ‚Das ist so ein leichtes Mädchen, die hat sich die Nummer eintätowieren lassen, damit man sie schnell anrufen kann.“‘
Wenig später hat sie sich auf einer Israel-Reise die 41948 entfernen lassen. „Von einem Araber. Ich wollte nicht, dass das ein Deutscher macht.“
Esther Bejarano hat das Konzentrationslager in Auschwitz überlebt. Sie spielte Akkordeon im Mädchenorchester. Ihre Musik begleitete die Mitgefangenen morgens um sechs Uhr auf dem Weg zur Arbeit. Ihre Musik wiegte Menschen in Sicherheit, die in den Zügen direkt in die Gaskammern fuhren. „Und die sich bestimmt dachten, wo Musik gespielt wird, da kann es ja nicht so schlimm sein“, sagt Esther Bejarano.
Sie hat gesehen, wie SS-Hauptscharführer Otto Moll seine Bluthunde wahllos auf schreiende Frauen hetzte, die dann von den wilden Tieren zerfetzt wurden. Wie Lagerarzt Josef Mengele die Reihen abging und vor einigen Häftlingen stehen blieb. „Ging sein Daumen nach rechts, bedeutete das den Tod in der Gaskammer. Ging der Daumen nach links, bekam derjenige noch eine Galgenfrist.“ Sie hat tote Frauen gesehen, die gegen den elektrisch geladenen Stacheldraht gelaufen sind, um ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Aber dass zu ihrer Musik Menschen in den Tod fuhren, ist das, was sie am meisten quält. „Und das ist bis heute so geblieben.“
Die Musik hat sie ihr Leben lang begleitet. Ihr Vater Rudolf Loewy war Oberkantor in der jüdischen Gemeinde in Saarbrücken. „Er hatte eine wunderschöne Stimme.“ Alle vier Kinder sollten Klavierspielen lernen, doch nur Esther, die Jüngste, hielt durch.
Rudolf Loewy, schlank, blond und blauäugig, hatte im Ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz 1, die höchste Kriegsauszeichnung, erhalten. Ein Patriot, der an der Front von einer Handgranate verletzt wurde. Er bat den Arzt, ihm nicht die Hand zu amputieren. „Er spielte auch mit drei Fingern wunderbar Klavier.“ Lange wollte es Rudolf Loewy nicht wahrhaben, dass die Nazis ihm, dem deutschen Kriegshelden, gefährlich werden konnten. Erst 1937 schickten die Eltern die beiden ältesten Kinder ins Ausland, ein Jahr später auch Esthers Schwester Ruth. „Meine Mutter hat die Trennung nicht verkraftet und wurde nervenkrank.“ Ruth hat in Holland einen ungarischen Juden geheiratet. Als die Nazis kamen, flohen beide in die Schweiz. Sie waren schon in Basel, als sie von Schweizer Polizisten nach Deutschland zurückgeschickt wurden. An der Grenze wurden sie von deutschen Beamten erschossen.
Esthers Eltern wurden im November 1941 von Breslau nach Riga deportiert, in einem Wald erschossen und in einem Massengrab verscharrt. Sie wurden 43 und 47 Jahre alt. Von Überlebenden erfuhr Esther, dass die Nazis Rudolf Loewy als Halbjuden angeboten haben, sich von seiner Frau zu trennen, um zu überleben. „Mein Vater sagte ihnen, er habe viele schöne Jahre mit seiner Frau verlebt. Solle er sie jetzt allein ins Unglück gehen lassen?“
Es hat unendlich lange gedauert, bis Esther Bejarano ihre Geschichte erzählen konnte. Bis sie erstmals Worte fand für die grauenvollen Bilder, die sich nachts immer wieder in ihren Kopf drängten. Jahrelang fand sie keine Ruhe. Es war immer der gleiche Traum. „Ich lag am Boden, und die SS-Männer trampelten mit ihren Stiefeln auf mir herum.“ Dann ist Esther, die sie als Kind „Krümel“ gerufen haben, aufgewacht. „Ich war jedes Mal erleichtert, dass es doch nur wieder ein Traum war.“
Nach der Wäscherei hat Esther Bejarano in Hamburg die Boutique Sheherazade eröffnet. Direkt davor an der Osterstraße hatte die NPD im Herbst 1979 einen Infostand aufgebaut. Als die Menschen dagegen protestierten, sah Esther, „wie Polizisten auf Antifaschisten mit Gummiknüppeln einschlugen und die Nazis schützten, damit die weiter ihre Flugblätter verteilen konnten“.
Da ist sie aus ihrem Laden gelaufen und eingeschritten. „Ich ging zu den Polizisten und sagte ihnen, ich sei im KZ gewesen und kann nicht begreifen, warum sie die Nazis beschützen.“ Ein Polizist sagte, in Russland gebe es auch KZ. Sie packte ihn am Kragen, er drohte, sie zu verhaften. „Machen Sie das ruhig, ich habe im KZ Schlimmeres erlebt.“ Einer von den Nazis rief dem Polizisten zu: „Sie müssen diese Frau verhaften, wenn sie in Auschwitz war. Denn in Auschwitz waren nur Verbrecher.“
Am nächsten Tag ist sie in die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes eingetreten. Und von da an hat Esther Bejarano ihre Geschichte erzählt. Sie ist in Schulen gegangen und auf die größeren Bühnen. 1982 sang sie vor 200.000 Menschen in Bochum. Esther Bejarano neben Harry Belafonte bei „Künstler für den Frieden“.
In den Schulen sagt sie den Jugendlichen: „Ihr seid nicht schuld an dem, was passiert ist. Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nicht wissen wollt, was geschehen ist.“ Sie sagt, dass die Schüler an deutscher Geschichte heute viel interessierter sind als vor 20 Jahren. „Viele kommen auch nach der Veranstaltung noch zu mir.“ Sie sagt: „Ich mache das nicht, weil ich meine Geschichte erzählen will. Sondern damit sich die Geschichte nie wiederholt.“
Esther überlebte auch den mehrtägigen Todesmarsch aus dem KZ, auf Schritt und Tritt bewacht von SS-Leuten. Zusammen mit sechs Mädchen schaffte sie es nach fünf Tagen, sich im Wald zu verstecken. Sie mischten sich unter die Flüchtlinge, die aus Berlin vor den Russen flohen.
Und trafen irgendwann auf US-Soldaten. Die Befreier auf Panzern. In einem Dorf wurden sie von den Amerikanern in eine Kneipe eingeladen. Esther erzählte, dass sie im KZ Akkordeon gespielt hatte. Wenig später brachte ein US-Soldat ein Akkordeon. Dann marschierte die Rote Armee ins Dorf ein. Ein russischer Soldat stellte ein riesengroßes Bild von Adolf Hitler auf den Marktplatz. „Musik, wer macht Musik?“ Die Amerikaner und die Russen zündeten das Bild an und tanzten mit den deutschen Mädchen. Hitler brannte lichterloh. Der Krieg war zu Ende. Und Esther spielt dazu Akkordeon.
„Die Befreiung war meine zweite Geburt“, sagt Esther Bejarano. Es ist nicht nur ein Leben, das sie lebt. Es ist ein Leben, das irgendwie immer wieder von vorne beginnt.
Im September 1945 fuhr sie mit dem Schiff nach Palästina zu ihrer Schwester Tosca. Sie erwartete jubelnde Menschen in Haifa – und kam erst einmal in ein Aufnahmelager. Wieder Zäune und Stacheldraht. Esther absolvierte eine Ausbildung zur Koloratursopranisten, sie sang in der Oper in Tel Aviv und in einem Arbeiterchor, wo sie ihren Mann Nissim kennenlernte. „Ein wunderbarer Mensch, wir waren fast 50 Jahre verheiratet.“ 1999 starb Nissim, er war an Parkinson erkrankt, sie hat ihn viele Jahre gepflegt.
Sie bekamen zwei Kinder, Edna und Joram. Esther unterrichtete Musik in Kindergärten. Weil sie das Klima nicht vertrug, aber vor allem weil Nissim keinen Krieg mehr in der israelischen Armee führen wollte, entschlossen sie sich 1960, nach Deutschland zurückzukehren. „Das fiel mir sehr schwer, aber wir hatten keine Wahl.“ Wieder ein Neuanfang. Sie kamen nach Hamburg. Sie fanden viele gute Freunde. Aber mit dem Begriff Heimat kann Esther Bejarano nichts mehr anfangen. „Ich habe keine Heimat.“ Sie findet es noch heute unfassbar, dass es Menschen in Israel gibt, die damals gesagt haben: „Ihr habt das KZ bestimmt nur überlebt, weil ihr mit den Nazis zusammengearbeitet habt.“
Wo gehört sie hin?
Im Museum der Arbeit in Barmbek drängeln sich die Menschen in die Fabrikhalle. Freitagabend vor einer Woche. 300 Besucher sind gekommen. Esther Bejarano macht jetzt Musik mit der Kölner Hip-Hop-Combo Microphone Mafia. Ihr Sohn Joram spielt Bass. Sie singt deutsche Texte mit einem Moslem und einem Christen. Rap gegen rechts. Drei Generationen und drei Religionen auf einer Bühne. Das ist ihr Platz.
Vorher hat sie 45 Minuten aus ihrem Buch „Erinnerungen“ gelesen. „Ich lese euch jetzt etwas vor, was ich nicht so gut erzählen kann“, hat sie gesagt. Dann schlägt sie ihr Buch auf, es wird still in der voll besetzten Halle. Die kleine Frau vorne am Tisch spricht mit klarer Stimme. Jedes Wort ein Schrei, jeder Satz eine Anklage, jedes Kapitel ein Zeugnis. Gegen das Vergessen. Die Zuhörer wagen kaum, sich zu räuspern.
Die Menschen kommen in Scharen. Sie ist wieder auf dem Weg zu neuen Ufern. Es ist ihre Form der Rache an den Bestien der Vergangenheit. Überall wollen sie ihre Geschichte hören. Und ihre Lieder. „Die Musik ist mein Leben.“ Sie hat ihr auch das Leben gerettet.
Esther konnte gar kein Akkordeon spielen, als sie nach Auschwitz kam. Sie musste in den ersten Wochen schwere Steine schleppen. Jeden Tag, von morgens bis abends. Über ein riesiges Feld. Erst von rechts nach links. Und am anderen Tag wieder von links nach rechts. Sie hätte das nicht überlebt, sagt sie.
Eines Tages kam Zofia Czajkowska in ihre Baracke. Die Musiklehrerin sollte ein Mädchenorchester zusammenstellen. Esther konnte Klavier spielen. „Wir haben hier kein Klavier“, sagte die Violinistin, „aber wenn du Akkordeon spielen kannst, bist du im Orchester dabei.“ Esther hatte noch nie ein Akkordeon in der Hand. „Ja, das kann ich“, sagte sie. Sie sollte den Schlager „Du hast Glück bei den Frau’n, Bel Ami“ spielen. Die Melodie mit rechts ging gut. Esther ahnte, dass sie das Instrument auseinanderziehen musste, um ihm Töne zu entlocken. Und dass die schwarzen Knöpfe vielleicht die Akkorde sein könnten. Ein Knopf hatte eine kleine Einbuchtung. C-Dur? Ja, zum Glück. Esther hat in der Baracke in Auschwitz die richtigen Akkorde gefunden. „Das war wie ein Wunder“, sagt sie.
Manchmal, sagt Esther Bejarano, könne sie das Glück, das sie im Leben gehabt hat, gar nicht fassen.
Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbild gelten. Esther Bejarano bekam den Faden von Jürgen Bönig und gibt ihn an Sylvia Wempner weiter.