Einst war er jüngster Schulleiter in Hamburg: Björn Lengwenus brennt für seine Schüler, das Schachspiel, den Fußball, Hilfsbedürftige aller Art. Ein Idealist, der mehr gibt als 100 Prozent.
Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbildgelten. Björn Lengwenus erhielt den Faden von Hannelore Lay und gibt ihn an Ulrich Hoffmann weiter.
Björn Lengwenus, 41, will demnächst ein Buch schreiben. Den Titel hat er bereits im Kopf. „Ich bin schuld.“ Es wird ein Liebesroman, ein tragischer. Happy End wohl ausgeschlossen. Der Plot steht fest. Es geht um Fußball, viel schlimmer noch: um den HSV.
Als Lengwenus elf Jahre alt war, im August 1983, sah er zum ersten Mal ein Bundesligaspiel des HSV. Der Club war drei Monate zuvor deutscher Meister und in Athen Europapokalsieger der Landesmeister geworden. Der Knabe dachte, dass es so weitergeht. Aus welchem Grund sonst sollte man ihn ins Volksparkstadion mitgenommen haben. „Nach nun gefühlten 600 Spielen im Stadion, vor dem Fernseher und fern der Heimat am Liveticker ahne ich heute, dass man mich getäuscht hat, dass ich in diesem Leben kein großes HSV-Spiel mehr sehen werde“, sagt Lengwenus. Und weil der Niedergang begann, als er sich für den Verein zu interessieren anfing, empfand er mit den Jahren der Erfolglosigkeit immer mehr eine Art Mitverantwortung.
Schon vor fünf Jahren, damals scheiterte der HSV gegen Werder Bremen im Halbfinale des DFB- und Uefa-Pokals, schrieb er in einer Mail ans Abendblatt: „Ich habe für diesen Verein gezittert und geweint, meine alte Fahne im Abstiegskampf aus dem Keller geholt und habe allein die Hymne gesungen. Ich bin nie vor dem Schlusspfiff aus dem Stadion gegangen. Ich bin nicht nachtragend, ich stehe das schon durch, aber eines müsst ihr wissen: Falls eines fernen Tages dieses Team einen Titel holen wird, wird keiner der Spieler auf dem Rasen diesen Sieg verdient haben. Nicht ein einziger hat das ertragen, gelitten und investiert, was wir Fans durchgemacht haben. Es wird mein, es wird unser Titel sein.“
Die Dauerkarte beim FC St. Pauli hat dem leidenschaftlichen Fußballfan inzwischen Trost verschafft, ein wenig. „Wir haben am Millerntor ergreifende Momente erlebt, Auf- und Abstiege, Rettung und Verzweiflung in letzter Minute. Es ist großartig, dabei zu sein. Ich genieße diese Atmosphäre. Richtig wehtun tut es aber nur beim HSV. St.Pauli ist meine Geliebte, mit dem HSV bin ich verheiratet. Und ich fürchte: bis dass der Tod uns scheidet.“
Wer sich jetzt um Lengwenus’ Seelenleben sorgt, dem sei gesagt: Dieser Mann hat abseits der Raute Erfüllung gefunden – in seinem Beruf, im Privaten, in zahlreichen Ehrenämtern. Seine Energie scheint unerschöpflich, sein Engagement ist es. „Ich bewundere ihn für seinen unermüdlichen Einsatz in so vielen Bereichen“, sagt seine Frau Sandra. Sie kenne kaum jemanden, der sich derart intensiv einsetzt für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, sei es in der Hamburger Sportjugend oder anderswo; der sich stets Zeit nimmt, obwohl er diese nicht mehr hat. „Wenn er von einer Idee überzeugt ist, mobilisiert er alle Kräfte. Und er schafft es, für all diese Dinge gleichzeitig immer genug Kraft zu haben.“ Er engagiert sich für ein Waisenhaus in Sambia, organisiert den regelmäßigen Schüleraustausch dorthin, im nächsten Moment kämpft er mit den Behörden um den Verbleib einer vietnamesischen Schülerin in Hamburg.
Lengwenus ist Lehrer aus Leidenschaft. Mit 34 wurde er an der Haupt- und Realschule Fraenkelstraße Hamburgs jüngster Schulleiter, heute wirkt er hier als Abteilungsleiter der Stadtteilschule Barmbek. Kinder aus 56 Nationen besuchen den Unterricht. Die Kollegen schätzen Lengwenus, er die Kollegen. Er hat sie alle nach seinen pädagogischen Vorstellungen ausgesucht. Und die unterscheiden sich schon ab und zu von den herkömmlichen.
Fächer wie LebensArt, die Kunst zu leben, hat er vor fünf Jahren eingeführt, an der benachbarten Grundschule Genslerstraße eine Stunde Schachunterricht statt Mathematik. Er hat ein Baumhaus bauen lassen, in dem die Schüler im Freien lernen können. Manchmal geht er mit seinen Klassen bei Sonnenschein auf eine Wiese. Dann legen sich alle hin, schauen in die Luft, genießen das Dasein, lassen ihren Gedanken freien Lauf. „Ist das Schule?“, fragt er provokativ und liefert die Antwort gleich mit: „Wir Lehrer sollten diese Dinge öfter machen. Schule ist heute tendenziell verkopft. Es geht meist nur um Inhalte, um das Verstehen und Verknüpfen von Themen. Es bleibt kaum Zeit zum Philosophieren, zum Fantasieren. Schule beschränkt sich häufig auf Ausbildung. Was wir lehren, dient vornehmlich dem Zweck, dass Kinder später in der Berufswelt funktionieren. Das ist zu kurz gegriffen.“
Kinder stark zu machen müsse das Ziel sein, „sie sollen ihr Leben in die eigene Hand nehmen und lernen, die Welt zu gestalten“. Sport, Spiel, Musik und Theater stehen an der Fraenkelstraße nicht nur als Nebenfächer auf dem Stundenplan. „Sie sind die Basis für alles Lernen“, sagt Lengwenus, der eine Zusatzausbildung als Spielpädagoge hat. „Kinder spielen, bis sie zur Schule kommen. Von der ersten Klasse an aber wird Spielen plötzlich dem Lernen gegenübergestellt.“
Lengwenus unterrichtet Religion und Erdkunde. Der Gedanke, wieder vor die Klassen zu treten, sei ihm vor zwei Jahren auf einer Weltreise gekommen, als er für zehn Monate eine lange geplante Auszeit vom Schuldienst nahm. „Ich kannte die Schüler zuletzt nur noch, wenn es Probleme gab, wenn sie zu mir geschickt wurden. Ich drohte ein falsches Schülerbild zu bekommen.“
Lengwenus ist in Barmbek aufgewachsen, Vater Koch, Mutter Angestellte. Als er vom Gymnasium ständig gute Noten mit nach Hause bringt, scherzt der Vater: „Das ist nicht mein Sohn. Wenn du mal eine ,Fünf‘ schreibst, gehen wir essen.“ Der Sohn erfüllt diesen Wunsch. „Dann haben wir richtig gefeiert“, erinnert er sich. „Ich habe großartige Eltern, und ich hatte das Glück, immer wieder Menschen getroffen zu haben, die irgendwie auf mich gewartet und mir unglaublich viele Chancen eröffnet haben.“ Glück zu haben sei kein Zufall, man müsse es nur wahrnehmen.
Mit elf lernt Lengwenus Schach. Im Rückblick, sagt er, ist das einer dieser Glücksmomente, „die ich wahrgenommen habe”. Er ist begabt, kommt beim Bundesligaclub Hamburger SK in eine Talentgruppe. Zum Selbstverständnis des Vereins gehört, dass diejenigen, die Schach gelernt haben, es später Anfängern beibringen. Christian Zickelbein, bis heute Präsident des HSK, in den 50er-Jahren Spiritus Rector des Schulschachs in Deutschland, hat das zum Prinzip erhoben. Lengwenus sagt über ihn: „Er ist ein einzigartiger Mensch.“
Das Lehren bereitet dem 13-Jährigen Spaß. Er kreiert für das Verstehen der komplizierten Materie kindgerechte Begriffe und Bilder. Den Wert der Figuren lässt er in Eiskugeln berechnen, den König verfrachtet er in höchster Not schon mal auf die Toilette. Mit dem Autor Jörg Hilbert entwickelt er als Student das Lernprogramm Fritz&Fertig. Die Hamburger Schachsoftwarefirma ChessBase vertreibt die DVD, übersetzt den Text in 17 Sprachen. Das Programm wird mehr als 500.000-mal verkauft. Es gewinnt zahlreiche Preise, wird 2002 „Spiel des Jahres“.
2007 erhält Lengwenus den Deutschen Schachpreis, die höchste Auszeichnung, die der Deutsche Schachbund vergibt. Die damalige Schulsenatorin Christa Goetsch schwärmt in ihrer Laudatio vom Experiment Schach statt Mathe, von Lengwenus‘ Kreativität und Experimentierfreudigkeit. Auf die Idee, den eher trockenen Mathematikunterricht aufzulockern, kommt Lengwenus, als er eine Studie des Zentrums für psychologische Diagnostik der Universität Trier liest. Die läuft von 2003 bis 2007 an der Olewig-Grundschule und ergibt: Kinder, die in diesen vier Jahren Schach an der Schule lernen, sind weit leistungsstärker als jene, die nur im herkömmlichen Fächerkanon unterrichtet werden. Seine Erfahrungen an der Schule Genslerstraße seien ähnlich, sagt Lengwenus.
Bei allem Eifer, bei allem, was er aus tiefster Überzeugung tut – Lengwenus ist kein Missionar. Er lässt anderen Freiräume, er versteht das Leben zu genießen. „Björn liebt das Leben“, sagt seine Frau. „Ich kenne niemanden, der so gut gelaunt, der so optimistisch in den Tag startet. Egal, welche Dinge sich ereignen, über welche Dinge man sich ärgert: Björn sieht immer das, was positiv ist. Im Zweifel ist es nur eine Anekdote unseres Lebens, sagt er.“
Auf seiner Weltreise hat Lengwenus in jedem Land ein Fußballspiel besucht. In Lusaka, der Hauptstadt Sambias, ist er 2011 der einzige Weiße unter den Zuschauern. Nach dem Spiel kommen zahlreiche Menschen auf ihn zu, wollen ihm die Telefonnummern der Spieler geben. Lengwenus erklärt ihnen, dass er nicht einer dieser Berater sei, er sei zum Vergnügen hier. 2012 wird Sambia Afrikameister. In dem Team stehen Spieler, die Lengwenus in Lusaka gesehen hat. „Der eine oder andere für den HSV wäre wohl dabei gewesen“, sagt er. Wieder eine verpasste Chance – und ein Kapitel für sein Buch. Denn diesmal ist er wirklich schuld.