Sie malen, gestalten, schrauben an Fahrrädern und debattieren beim Tee, wie man Basisdemokratie macht. Ein Rundgang durchs Gängeviertel.
Der schmale Weg unter dem Baugerüst, das seit acht Jahren an einem der Gängeviertel-Häuser an der Caffamacherreihe festgewachsen zu sein scheint, hat eine heimelige, dunkle Atmosphäre wie eine Höhle. An der Ecke findet man die "Jupi"-Bar: eine alte Eckkneipe, die heute Treffpunkt, Kleinkunstbühne und informelle Schaltzentrale für alle ist, die "ins Viertel" gehen. Zu erkennen ist das allerdings kaum, denn wie alles im "Viertel" scheint die mehr als 100 Jahre alte Schankwirtschaft fest im märchenhaften Dornröschenschlaf zu schlummern. Leerlauf, wie einige meinen. Manche empfinden es sogar als Stillstand.
"Ist das Kunst oder kann das weg?", steht auf einem Plakat, das am Tresen hängt und eine Auktion mit Selbstgemachtem ankündigt. Darüber hat jemand schwungvoll "Kunst is, was ich brauch" auf ein Stück Papier geschrieben. Fast nichts hat sich seit der Kaiserzeit in den drei Räumen geändert. Im Eisenofen flackert das Feuer, oberhalb der kleinen Treppe fällt die neue Zeit mit einem vernarbten DJ-Pult und einer Kaffeemaschine kaum auf. Verena bringt ihren selbst gebackenen veganen Schoko-Kuchen und serviert Kaffee. Der Kaffee ist stark, der Kuchen von Großmutterqualität. Zwanglos wandern Hartgeld und Scheine in die Spenden-Blechdose.
Weil die Internetverbindung im Viertel nicht wirklich funktioniert, hängt an der Wand ein Holzkästchen mit 31 namentlich gekennzeichneten Fächern, in die Zettel gesteckt werden. Analoge Post wie zur Kutschenzeit. Aber wann kommt endlich der Postillon und verkündet den Baubeginn? Die Anwesenden sitzen in Sesseln bei Selbstgedrehten. Einer schnitzt an einem Damen-Armreif. Gängeviertel-Romantik pur, heimelig und welpennett, wie aus dem Bilderbuch. Doch diese Geruhsamkeit schmeckt nicht allen.
Als das Gängeviertel, ein Gebäudekomplex zwischen Valentinskamp, Caffamacherreihe und Speckstraße, vor mehr als drei Jahren von den Stadtoberen fast vollständig zum Abriss freigegeben worden war, regte sich ein erstaunlich großer Protest in Hamburg. Das ebenso historische wie morsche Quartier, in dem immerhin der Hamburger Ehrenbürger Johannes Brahms zur Welt kam, wurde zum bundesweit beobachteten Symbol des Kampfes gegen profitversessene Investoren. Die kreative, von freundlichen Menschen sehr liebenswert organisierte Hausbesetzung fand für ihre Stadtentwicklungs-Ideen auf kleinem Raum Unterstützer in etlichen Bevölkerungsschichten, bis tief ins bürgerliche Lager hinein. "Ja, wir sind ein Stück weit konservativ", erklärt Gängeviertel-Sprecherin Christine Ebeling, "aus unserer Sicht soll so viel wie möglich von der alten Substanz erhalten bleiben."
Besucher des Gängeviertels gehen langsam, immer wieder den Kopf hebend oder auch die Handykamera: Jüngere machen sich ein Bild vom historischen Häuserensemble, und das so ausführlich, als wollten sie ein Stück vom Viertel für sich selbst. Viele wundern sich, "dass es so klein ist", nur zwölf Häuser alles in allem. Eine überschaubare Angelegenheit. Ältere Menschen haben offensichtlich den Bedarf, sich lange zu unterhalten, immer wieder auf etwas zu zeigen, das Erinnerungen weckt.
Die Ruhe im Viertel hat auch damit zu tun, dass der weithin wahrgenommene Kampfgeist der Besetzung sich verflüchtigt hat. Die Wogen haben sich geglättet. Verträge wurden unterzeichnet und ein integriertes Entwicklungskonzept aufgestellt. Die Stadt sah einige Fehler ein und korrigierte sie. 20 Millionen Euro - sowohl von der Stadt als auch von der EU - sollen investiert werden: für die Sanierung des historischen Quartiers, Arbeitsräume für Künstler und Wohnraum für Nicht-Künstler.
Hamburg gilt an dieser Adresse plötzlich als Vorzeigestadt eines Beispiels friedlicher Stadtentwicklung für Bewohner und, endlich einmal, eben nicht für glasglatte Visionen von Investoren. Die Sensation war perfekt, die Kehrtwende der Politik amtlich. 2011 wurde das Viertel von der Unesco zum "Ort kultureller Vielfalt" gekürt. Seitdem reisen die Gängeviertler durch ganz Europa und halten Vorträge, wie man so etwas hinbekommt, diesen Mikrokosmos aus Farben, Erfindungsreichtum und Argumenten.
Tja. Schön. Sehr schön. Und nun?
Nun geht es um die durchaus mühsame Umsetzung des vielen Kleingedruckten aus der Kooperationsvereinbarung zwischen Gängeviertel, Stadt und STEG als neuem Treuhandeigentümer. Nun wird mehrfach wöchentlich über den besten Weg in die Selbstverwaltung getagt, beraten, kritisiert, verbessert, vertagt; dann wird im Zweifelsfall noch mal diskutiert, gestritten und sich geeinigt oder auch nicht. 150 Personen bilden den inneren Kreis, der beschließt oder verwirft. Für den Rest der Welt, auf der anderen Seite der dann verschlossenen Türen, ist das oft wohl nur schwer nachvollziehbar.
"Seinen Viertelkoller holt sich hier jeder ab", meint Darko Caramello, Künstler, Aktivist der ersten Stunden und als Moderator zwischen den Genossenschaftsfraktionen bekannt. Er kann sich ein leichtes selbstironisches Grinsen über den "fluktuierenden Haufen" nicht verkneifen, während er einige seiner Bilder holt. Basisdemokratie, erkennbar an den ständigen Fachgruppensitzungen, ist echter Stress, erst recht für Künstler, die anderes im Kopf haben. Irgendwann, wenn es tatsächlich saniert ist und alle wieder staunen, wird man sagen: Die eigentliche Leistung liegt darin, den nervenaufreibenden inneren Kampf schließlich doch noch gewonnen zu haben.
"Man muss nicht ständig über alles entscheiden, sonst geht das Viertel daran kaputt", meint Darko, während er in seinem Atelier zur Begrüßung Schokoladenriegel und Orangensaft serviert. "Wie verhindert das Viertel manchmal ist", wundert er sich. "Verantwortung abgeben und loslassen, das ist hier ein großes Thema." Seit Beginn der Gängeviertel-Wiedergeburt kamen nicht nur vier Kinder von Paaren, die sich dort kennengelernt hatten, zur Welt. "Mehr als ein Viertel"; die offizielle 238-Seiten-Chronik zum dritten Geburtstag des Quartiers listet neben fünf Platzverweisen auch "ernsthafte Nervenzusammenbrüche" auf. Bezeichnenderweise ohne endgültige Zahl. Schon das Buch an sich ist ein vierteltypischer Widerspruch: ein dekoratives Coffetable-Buch über eine subversive Aktion aus Kunst, Politik und Protest.
Momentan wird noch geplant, im März oder April sollen die Bauarbeiten an den ersten Häusern beginnen, auch an den Strukturen des Viertels wird noch gefeilt. Wer bekommt hier wie viel zu sagen, und wem, und warum, und für wie lange? Und wer bezahlt es dann, wenn es jenseits der hier sehr weit verbreiteten Selbstausbeutung stattfindet? Der Fragenkatalog hat noch viele Spielräume. Keiner spricht es aus, doch alle wissen es: Bei scheiternden Verhandlungen könnte durchaus wieder das Schild mit dem Wort "besetzt" an die Tür gehängt werden. Und niemand weiß, wie dann die Haltung der Stadt und ihrer Bürger wäre, nach so viel Bewegung, so vielen Verabredungen, so vielen Investitionszusagen, so viel Hin und Her und Vor und Zurück.
"Es ist ein großer Erfolg, dass es gelungen ist, die Sanierung des denkmalgeschützten Gängeviertels auf den Weg zu bringen", findet Kultursenatorin Barbara Kisseler und: "Es wird noch viel Kraft, langer Atem und guter Willen auf allen Seiten nötig sein, um das Viertel langfristig zu einem kreativen und lebendigen Ort für alle zu entwickeln." Was man so verlautbaren kann, wenn man als politische Instanz mittendrin ist im Werden und Weichenstellen und es mit sehr individuellen Zeitgenossen zu tun hat, die sie als "sehr engagierte, vielfältige Gruppe" bezeichnet. "Nicht alle hier sind Künstler", sagt Ebeling, aber angesichts des kräftezehrenden ehrenamtlichen Engagements "sind wir alle auch Lebenskünstler".
Ein gewisser Normalzustand hat Einzug gehalten in den zwölf historischen Häusern, die in teuerster City-Lage ein komplett anderes Selbstverständnis von Stadt und Kunst demonstrieren, als es der Konvention entspricht. Doch "normal" ist nach wie vor relativ. "Es ist für mich immer noch ein Wunder, dass es uns gibt", meint Hannah Kowalski, sie ist ein wichtiger Kopf im Viertel, bestens vernetzt in den Szenen der Stadt und schreibt im Fach "Kultur der Metropole" (HCU) an ihrer Promotion; Thema: "Kollektive Entscheidung und ihre performative Praxis". Es geht um das Gängeviertel. "Warum fragt uns niemand: Was braucht ihr, damit das Viertel funktionieren kann?", fügt sie seufzend hinzu.
Wer jetzt das dreieinhalbjährige Gängeviertel als wilden Mix aus begehbarer Kunstinstallation, gruppendynamischer Performance, gesellschaftspolitischer Ansage und basisdemokratischer Debattieranstalt verstehen will, muss Zeit mitbringen. Und Geduld. Und Toleranz. Und gut zuhören können sollte man auch. Das Viertel lebt, nach wie vor und obwohl es in den vergangenen Monaten nach der Einigung mit der Stadt stiller geworden ist um das Dutzend Häuser, aber es lebt vor allem nach eigenen Regeln.
Das heißt: Morgens lebt es eher noch nicht. Der Motor der Belegschaft hinter den bunt bemalten Kulissen kommt erst langsam in die Gänge. Andererseits aber: warum auch nicht? Die Muse hält sich beim Verteilen ihrer Küsse nicht an die gängigen Bürozeiten. Wenn der Schaffensdrang an die Ateliertüren klopft, kann das dann auch mal abends sein oder nachts.
Das kreative Austoben im Viertel macht nur vor sehr wenig halt: Sicherungskästen werden mit Aufklebern ("Miete essen Seele auf") tapeziert, als wären sie Bannsprüche gegen den Rest der Welt. Wände und sogar Lichtschalter werden überall bemalt ("Liebe siegt. Immer!"), besprüht, verziert, wahrscheinlich längst in mehreren Schichten, sodass Restauratoren im 22. Jahrhundert staunend und behutsam eine Epoche nach der anderen freilegen könnten. In einigen Treppenhäusern haben ihre heutigen Kollegen vorsichtig die Wandfarben-Schichten vergangener Zeiten enthüllt. Geschichte wiederholt sich hier überall, flächendeckend.
Zwei Türen links neben dem Eingang der "Jupi"-Bar, einem zentralen Treffpunkt, geht es ins Souterrain, zur Fahrrad-Reparaturwerkstatt von "Günter & Mark". Beste Chancen: "Mo + Di, 14-19 Uhr und oft abends". Öffnungszeiten, die in etwa dem Rhythmus des Viertels entsprechen. Zwischen den Fahrrädern trippelt abends auf dem Fußboden eine erschöpfte Möwe, die der Mechaniker Günter Weigel gerettet hat. Ungeflügelter Besuch sitzt auf einem abgewetzten Sofa, man plauscht bei Radiomusik, während Günter gemächlich vor sich hin schraubt.
"Jupi"-Bar, "Kupferdiebe", Ateliergemeinschaften, ein "Umsonstladen" und der seit vielen Jahren dort lebende Friseur und Freizeitgitarrist Jan Helmer füllen das 1890 erbaute "Kupferdiebehaus" an der Caffamacherreihe. Dahinter liegt ein von drei Seiten geschlossener Innenhof mit dem Eindruck von Zilles "Miljöh": Produktionsort für großformatige Plastiken, Bühne, Platz für Feiern mit mobiler Bar. Hier befindet sich das "Kutscherhaus" von 1903 mit Galerien und einem Büro der Gängeviertel-Genossenschaft. Die Büroarbeit ist hart und läuft unbemerkt. Mit dem Geld der Genossen wollen die Gängeviertler das Quartier in ferner Zukunft von der Stadt zurückkaufen.
Seinen eigenwilligen Namen verdankt das "Kupferdiebehaus" seit 2008 einer Gasleitung, die eines Tages gemopst war. Einfach abgesägt. Kupfer, auch in kleineren Mengen, bringt gutes Geld. Nur durch einen glücklichen Zufall wurde der Diebstahl bemerkt und verhindert, dass es zu einer Szene wie in Fatih Akins Hamburg-Hommage "Soul Kitchen" kommt, bei der es im Gängeviertel brennt. Im Laden von Sebastian Fuchs und Markus Mross glimmen aber höchstens die Zigarettenstummel in den Aschenbechern. Sie verkaufen amüsante Kunst-Kleinigkeiten und bedrucken Werbefolien, bauen Lichtkästen und können auch sonst so einiges: Grafik, Programmieren, solche Dinge. Und wenn ihnen danach ist oder jemand zu sehr meckert, benennen sie ihren Laden eben um. Wofür sonst ist man sein eigener Boss. "Geschlossen (außer heute)" - vielleicht doch etwas zu viel Ironie für Laufkundschaft - wurde von jetzt auf gleich zu "Komm rein, kauf ein" geändert.
Hier landen Paketlieferungen für die Quartier-Nachbarn, während wir uns unterhalten, wird ein "Gängeviertel"-Außenwand-Logo hereingewuchtet. Der rote Punkt mit dem "Komm in die Gänge"-Spruch ist längst ein international bekanntes Markenzeichen. Sogar die "Lonely-Planet"-Reiseführer sollen das Viertel inzwischen schon erwähnen. Der fragwürdige Preis des Ruhms. Wenn Touristen kommen - bedeutet diese Berühmtheit das Ende der Bewegung und den Beginn eines Ausverkaufs? Noch fahren die roten Stadtrundfahrt-Busse nur vorbei. Was passiert, wenn sie halten und "nur mal kurz" reinschauen und knipsen wollen? Einen Künstler-Streichelzoo will hier garantiert niemand inszenieren, da würde die bewährte Freundlichkeit dann doch aufhören. "Wir sind ein Kunst- und Kulturprojekt und leben von der Öffentlichkeit", erklärt Darko.
Im Parterre neben den "Kupferdieben" befindet sich der "Umsonstladen", wo es Abgelegtes, Geschenktes, Spenden und Übriggebliebenes kostenlos gibt. Viel Krimskrams ist dabei, aber wer lange und hingebungsvoll genug sucht, stößt mit etwas Grabungsglück vielleicht auf eine Vintage-Handtasche. Weiter oben im Haus haben sich Künstler ihre Kreativoasen eingerichtet, jeweils zwei Wohnungen auf drei Etagen werden als Ateliers genutzt. In einem malt Björn Schmidt mit Acryl. Die Fenster sind eher schlecht als recht isoliert, wer ständig hier arbeitet, gewöhnt sich an vieles und arrangiert sich schicksalsergeben und einfallsreich mit dem, was ist. Geheizt wird in den meisten Räumen mit Holz, weil Kohle verboten ist. Eine dicke Staubschicht auf dem Radio erinnert daran, dass das Viertel nach wie vor eine große Baustelle ist. Wenn die Holzbriketts mal ausgegangen sind, wird bis zum Gefrierpunkt gemalt. Leichter funktioniert das Streicheln der Seele und der Herzen. Das kommt von allein: mit jährlich 25.000 Besuchern, die die vielen Kulturveranstaltungen besuchen oder bei einer "Faltenrockparty" in der "Jupi"-Bar, wo 60-Jährige zu Rock-'n'-Roll-Klassikern von Bill Haley tanzen. Nach dem veranstaltungsfreien Monat Januar geht es im Februar los, mit HCU-Kunstlabor, Filmlounge und Werkschauen.
Hunderte von Besuchergruppen wurden schon durchgeschleust, immer wieder kommen Anfragen aus Metropolen wie Paris oder Barcelona zum Making-of dieses Phänomens. Nein, gezählt habe man das nicht, meint die Viertel-Sprecherin Ebeling, aber man müsste es dringend. Man müsste noch so vieles hier.
Nicht alle Nachbarn sind begeistert vom Viertel. "Die benehmen sich so, als hätten sie die Gesetze geschrieben", sagt ein Mitarbeiter von Joey's Pizza mit genervtem Unterton, echt schwierig seien die. Er meint jene Gängeviertler, die mehr Wert auf ausgiebiges Feiern legen und weniger am Projekt mitarbeiten. Die Joey's-Filiale wurde direkt neben den "Kutscherhäusern" eröffnet, die Liefer-Roller parken nun in Sichtweite einer riesigen bunten Skulptur von Markus Frost. Die Idee, dort ein Gängeviertel-Café einzurichten, als die Räume zu mieten waren, zerfaserte und scheiterte in internen Diskussionen.
Jetzt, nach gut dreieinhalb anstrengenden Ausbildungsjahren, stellt Hamburgs oberster Kunst-Lehrer dem Viertel ein Zwischenzeugnis aus, das sie sich einrahmen und stolz vorzeigen können, falls mal wieder hoher Besuch kommen sollte: "Ich denke, dass die kulturpolitische Bedeutung für die Entwicklung der Stadtgesellschaft gleichwertig mit der Bedeutung der Elbphilharmonie ist, auch wenn die Inhalte verschieden sind", antwortet Martin Köttering, Präsident der Hochschule für bildende Künste (HFBK) auf die Frage, was das Gängeviertel für die Stadt darstellt. Etliche seiner Studentinnen und Studenten waren dort aktiv, es war fast schon eine Ausbildungs-Außenstelle für den Kunst-Professor vom Lerchenfeld.
"Die Elbphilharmonie muss mithilfe professioneller Manager zwingend exzellente Hochkultur für ein breites Publikum erzeugen, sie muss in der Liga der weltweit besten Philharmonien spielen", sagt Köttering auch noch. "Das Gängeviertel steht für einen eigenverantworteten Ort des Ausprobierens. Wo es gerade nicht um das Konsumieren von Kunst, um einen kulturellen und ökonomischen Unterhaltungswert geht, sondern um notwendigen Freiraum für offene künstlerische Prozesse." Kötterings These vom Gängeviertel als "kreatives Versuchslabor" bewahrheitet sich in so ziemlich jedem Haus. "Vor unseren Augen läuft ein experimenteller Prozess ab, der vielleicht manchmal auch eine anarchistische und chaotische Ausstrahlung hat", hat Köttering geurteilt. Der Geigenbauer Georg Winterling sieht das ähnlich, nur nicht ganz so wohlwollend.
Seine Werkstatt am Valentinskamp 34 bildet, äußerlich betrachtet, einen Teil des Gängeviertel-Ensembles. Innerlich jedoch ist sie eher exterritoriales Gelände, wie die Vatikanstadt in Rom. Nach der Devise "Ich hab ja nichts gegen die Leute, aber ..." beklagt Winterling sich unter anderem über die Feiern nebenan. Er kann die Denkprozesse der Gängeviertler nicht nachvollziehen, ihre politische Bedeutung erkennt er durchaus an, das Künstlerische ihres Da-Seins habe aber für ihn keine Nachhaltigkeit. Die Galerie eine Tür weiter scheint leer, Pappe hängt in den Fensterscheiben, eine Ausstellung wird dahinter vorbereitet. Von Belebung ist an dieser Adresse gerade nichts zu sehen.
Durch die Schier's Passage kommt man in einen Innenhof mit einem richtigen Baum und dem Flair mittelalterlicher Gemütlichkeit: ein schmaler Hof, umgeben von unverbastelten Backsteinbauten, die Denkmalpflegern Glückstränen in die Augen treiben. Bänke, Sessel und Mauervorsprünge laden hier zum gemütlichen Sitzen ein. In der "Teebutze" serviert Jürgen Pitzschel Getränke gegen Spenden. Genau hier hat nicht nur das Viertel einen unnachahmlichen Charme, sondern auch seine Bewohner - pardon: Bewahrer - denn wohnen darf man da ja noch nicht.
Der Charme der Lebenskünstler verlockt manchen Gast dazu, den Tee mit einer 20-Euro-Spende zu bezahlen. "Im Sommer passiert das häufiger", sagt Jürgen. Wer seinen Tee drinnen trinken will, muss aus den bereitliegenden Espadrilles ein Paar wählen, um das Matratzenlager zu entern. Die "Teebutze" gilt im Viertel als beliebter Treffpunkt, auch für die frischen Eltern unter den Viertel-Paaren.
Am Ende der Schier's Passage befindet sich die "Tischlerei". Hier haben die Bildhauerinnen Marion Walter und Claudia Pigors mit sechs anderen Künstlern ihre Ateliers. Hier wird richtig Kunst produziert, wenn nicht gerade internationale Einladungen oder die verzwickte Quartiers-Arbeit rufen.
Hinter einer winzigen Freifläche steht die "Fabrik" mit ihren Veranstaltungsräumen, in denen die großen Zukunftsplanungen entworfen werden. "Am besten wird das Gängeviertel ein Ort, den man nicht kategorisieren kann", fasst Christine Ebeling die vielen Ziele und Wünsche seiner vielen Betreiber, Beleger und Beleber zusammen. "Hoffentlich wird es ein Ort für Leute mit geringem Einkommen und dem Wunsch, sich einzumischen. Hoffentlich bleibt das Viertel kritisch und eine Irritation. Eines ist klar: Eine Touristenattraktion wird es und ist es auf jeden Fall, ob wir wollen oder nicht."
Beliebt ist das Viertel jetzt schon: Im benachbarten BrahmsQuartier hat die Deutschlandzentrale des Esso-Konzerns ihren Sitz. Die Vorweihnachtszeit bescherte den Gängeviertel-Aktivisten eine Portion Adventskalender von dort. Kleine Freundschaftsgeschenke, wie sie unter sich wohlgesonnenen Nachbarn üblich sind. Herr Freitag, der Bünabe aus dem Polizeikommissariat 14 an der Caffamacherreihe, klar, der schaut gern mal auf einen Plausch vorbei, heißt es bei den tiefenentspannten Jungs von den "Kupferdieben". Und neben der Eingangstür des Hauses in der Speckstraße findet sich ein Kalenderspruch an der Wand, der zu so vielen erstaunlichen Kontrasten bestens passt. "Die Wahrheit ist immer konkret." Lenin.