Hamburg. „Alles, was wir nicht erinnern“: Ein Recherchestück über Heimat, Vertreibung und Flucht, in dem das Publikum am eigenen Leib davon erfährt.

Und plötzlich steht da fast das gesamte Publikum. Zuerst all jene Zuschauerinnen und Zuschauer, die selbst schon einmal geflüchtet sind (überschaubar). Dann alle, deren Eltern Fluchterfahrungen haben (schon deutlich mehr). Und schließlich alle, deren Großeltern einst fliehen mussten (ganz schön viele). Sie alle hat die Schauspielerin Oda Thormeyer zum Beginn der Vorstellung im Thalia in der Gaußstraße gebeten, sich von ihren Stühlen zu erheben.

Und ihre Ensemblekollegin Sandra Flubacher blickt auf die leicht verlegen Stehenden und ergänzt: Man hätte auch alle Menschen auf der einen Seite des Saales bitten können, ihre Privatsachen liegen zu lassen und den Raum und das Theater zu verlassen, um sich irgendwo draußen unterzustellen – und die auf der anderen Seite des Saales hätten ihrerseits ihre Sachen liegen lassen müssen und wären auf die freigewordenen Plätze gewechselt. „Darum geht diese Geschichte.“

Premiere am Thalia Theater: Bitte aufstehen, wenn Großeltern fliehen mussten

Eine verblüffend simple Übung, die am eigenen Leib erfahrbar macht, wie zufällig es sein kann, wer an welchem Ort „zu Hause“ ist, und die nebenbei unter anderem die Westverschiebung Polens erklärt: „Heimat, Heimat, Heimat. Ist Heimat ein Ort? Ist Heimat ein Gefühl?“

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Christiane Hoffmann, stellvertretende Regierungssprecherin und Autorin von „Alles, was wir nicht erinnern“, kam zur Premiere ins Thalia in der Gaußstraße. © ddp images/Chris Emil Janßen | Chris Emil Janßen

Eigentlich ist das vor zwei Jahren erschienene Buch „Alles, was wir nicht erinnern“ der einstigen „Spiegel“-Autorin und derzeitigen Stellvertretenden Regierungssprecherin Christiane Hoffmann kein theatraler Text. Es ist ein Sachbuch, wenn auch ein autobiografisches, berührendes und ausgesprochen literarisches: „Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters“, lautet der Untertitel. Denn das hat Christiane Hoffmann getan: Sie hat sich auf die Fluchtroute ihres eigenen Vaters begeben, ist rund 550 Kilometer aus dem einst deutschen Dorf Rosenthal in Schlesien (das jetzt Różyna heißt) nach Wedel bei Hamburg gewandert. Allein. Zu Fuß. Um „das verfluchte 20. Jahrhundert aus mir herauszulaufen“, um den „Schmerz zu spüren, über den in meiner Kindheit geschwiegen wurde“.

Wenn Traumata durch die Generationen weitergegeben werden

Der erfahrene Dokumentartheaterregisseur Gernot Grünewald hat diesen Text nun mit Schauspielerinnen und Schauspielern auf die Zweitbühne des Thalia Theaters gebracht, ergänzt um Schwarzweiß-Aufnahmen des Videokünstlers Jonas Plümke und eigene Interviewmitschnitte aus Różyna. Und die Übertragung auf das Theater erweist sich als eine plausible Erweiterung: Zwar handelt es sich einerseits um die höchstpersönliche Geschichte einer Tochter, die durch Nacherleben und genaue Recherche „erinnert“, was der Vater sein Leben lang vergessen wollte. Andererseits, wie auch das Experiment zum Vorstellungsbeginn zeigt, liegt darin ein kollektives Interesse: Hoffmanns Erfahrung, auch die Weitergabe von Traumata durch die Generationen, ist alles andere als ein Einzelfall. Man spürt das in einem Theaterraum noch einmal anders als beim Lesen.

Pressefoto Thalia Gaussstraße - Alles,was wir nicht erinnern
„Alles, was wir nicht erinnern“, ein Projekt von Gernot Grünewald und Jarosław Murawski, feierte seine Uraufführung im Thalia in der Gaußstraße. © Armin Smailovic | Armin Smailovic

Im Herkunftsdorf ihres Vaters haben Christiane Hoffmann, Grünewald und Plümke gemeinsam mit dem polnischen Autor Jarosław Murawski mit Zeitzeugen und Nachfahren der 1945 aus der Westukraine vertriebenen polnischen Familien gesprochen, die heute dort leben, wo gelegentlich deutsche „Heimwehtouristen“ zum Streuselkuchen vorbeischauen. Man isst von Geschirr, das die Vorfahren der einen verlassen mussten und das die Nachfahren der anderen nie als das ihre angenommen haben.

Thalia in der Gaußstraße: Die Suche nach einem Umgang, der weder Vergeltung noch Verdrängung ist

Flubacher, Thormeyer, Tim Porath und Anna Maria Köllner übernehmen die Erzählpositionen, springen durch die Rollen und Zeiten, kloppen Skat, während die kleine Christiane unter dem Küchentisch den Erinnerungen und Nicht-Erinnerungen der Erwachsenen lauscht („Es war nicht alles schlecht“), oder marschieren als Flüchtlingstreck auf Laufbändern (Bühne: Michael Köpke). Zur Seite stehen ihnen zwei polnische Darsteller (alternierend: Rolf Bach/Marek Kandel mit Elisabeth Kalina/Viola Krizak) sowie zwei Kinder (alternierend: Linda Kuric/Mona Pehle mit Jari Lohmeier/Jasper Radtke/Joon Staschen).

Alle wechseln kontinuierlich ihre Positionen, am Tisch, am Mikro, durch Live-Kameras auf die große Leinwand übertragen. Bisweilen zerfasert es dadurch ein wenig, dauernd muss einer das rotierende Bühnenpodest anschieben, der Ablauf wirkt nicht immer organisch, hat mitunter etwas Überbetriebsames. Aber vielleicht bildet das sogar ganz gut die emotionale Unsicherheit ab, die Suche nach einem Umgang, der weder Vergeltung noch Verdrängung sein will.

„Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen“. Grünewald lässt das Zitat von William Faulkner auf die rückwärtige Videoleinwand projizieren, es ist einer der Momente, in denen die Bühnenfassung, die in ihren tristen Hintergrundbildern jegliche Idylle penibel vermeidet, kurz am Kitsch entlangschrammt. Nötig ist das eigentlich nicht. Hoffmanns Schilderungen lassen in ihrer Klarheit und politischen Hellsichtigkeit (das Buch, in dem sie bereits von der schwelenden „Glut“ schreibt, erschien 2022 kurz vor Putins Einmarsch in die Ukraine) ohnehin schaudern.

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So erzählen der eindrucksvolle Text und der insbesondere in seiner Empathie schlüssige Abend über ein Europa, von dem wir bis vor Kurzem fast vergessen hatten, wie fragil es war und wie brüchig es offenbar noch immer ist. „Ganz Polen fürchtete noch Jahrzehnte nach Kriegsende, dass es wieder losgehen könnte“, heißt es an einer Stelle. Wer würde diese Furcht heute abwegig finden?

„Alles, was wir nicht erinnern“, Thalia/Gaußstraße, wieder am 1. und 8.12., 19 Uhr, sowie am 18.12. (20 Uhr) und 22.12. (19 Uhr), Karten und weitere Termine unter www.thalia-theater.de

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