Hamburg. Sehr künstlich, (fast) wie das Leben: Der französische Regisseur im Gespräch über seinen neuen Film, der Ende November im Kino startet.
- Schon vor dem Filmstart läuft eine Preview von „Emilia Pérez“ im Hamburger Zeise-Kino.
- Inspiration für Jacques Audiards Film war ein Roman, in dem ein Drogenboss sein Geschlecht wechseln möchte.
- Beim Filmfest Hamburg erhielt Audiard Ende September den Douglas-Sirk-Preis.
Von klein an ist Jacques Audiard mit dem Kino verbunden. Geboren 1952 in Paris, waren technische und ästhetische Aspekte der Filmkunst für den Sohn des Drehbuchautors und Regisseurs Michel Audiard seit je Thema am Frühstückstisch. Nach Lehrjahren als Cutter, Drehbuchautor und Gelegenheitsschauspieler fand er seinen Platz auf dem Regiestuhl. Spätestens mit dem Erfolg des Krimidramas „Ein Prophet“, das bei den Filmfestspielen in Cannes 2009 mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet und im Folgejahr für einen Oscar nominiert wurde, zählt Jacques Audiard zu den ganz großen Filmkünstlern Frankreichs.
Mit „Emilia Pérez“, seinem zehnten Spielfilm (ab 28. November in deutschen Kinos), betritt Audiard in mehrfacher Hinsicht Neuland. Der Film zeigt die Geschichte eines Drogenbosses aus Mexiko, der eine operative Geschlechtsangleichung durchführen lässt, um von der Bildfläche zu verschwinden und zugleich seine Macho-Identität hinter sich zu lassen. Erzählt wird das als eine hochfluide, musikalische Komödie mit Song- und Tanzeinlagen, als Farce und Tragödie – sehr künstlich und (fast) wie das Leben. Im Rahmen des Filmfest Hamburg wurde Jacques Audiard Ende September mit dem Douglas-Sirk-Preis ausgezeichnet.
Herr Audiard, es fällt mir sehr schwer, Ihren Film zu beschreiben, weil er auf so vielen verschiedenen Handlungs- und Erzählebenen stattfindet. Mal ist er sonnig und ausgelassen, mal düster und bedrohlich, mal tanzen Menschen auf der Straße, mal führen sie ein enges Leben in engen Wohnwaben …
Jacques Audiard: Das, was den Film ausmacht, ist, dass die Hauptfigur eine Geschlechtsangleichung durchlebt. Und so wie sich die Hauptfigur wandelt, entwickelt sich auch der Film ständig weiter. Es tauchen die unterschiedlichsten Genres auf: Familiendrama, Telenovela, dann die Geschichte von diesem Drogenboss. Von dieser ständigen Bewegung lebt der Film. Die Fiktion wird sozusagen überladen, man darf in diesem Zusammenhang keine Angst haben, nicht vor Kitsch, vor der Lächerlichkeit, vor einem Übermaß an Naivität – das muss der Film alles aushalten können.
Wie sind Sie zu dieser verwickelten Geschichte gekommen?
Der eigentliche Anstoß war ein Kapitel aus einem Roman, in dem ein Drogenboss sein Geschlecht wechseln möchte. Diese Idee hätte ich selbst nie gehabt. Ich habe zunächst ein Libretto geschrieben, und als daraus ein Drehbuch für einen Film wurde, war die ursprüngliche Idee, das als eine Oper zu erzählen, über den Haufen geworfen. Es fehlte an Realität. Wir sind dreimal nach Mexiko geflogen, um dort nach der perfekten Umgebung zu schauen, aber die war in der Realität nicht zu finden. Es ist so viel Stilisierung nötig, dass wir dann in ein Studio in einem Vorort von Paris gegangen sind und den Film auf einer Bühne gedreht haben.
Wie sehr verändert diese sozusagen konstruktivistische Studioarbeit, bei der man ein Bild nach und nach aus Einzelteilen zusammensetzt Ihre Arbeit mit den Schauspielerinnen und Schauspielern?
Jeder Film, den man dreht, bringt einem neue Erfahrungen. Bei anderen Filmen haben wir die Schauspieler an ihren Platz gestellt, in den entsprechenden Hintergrund, aber das funktionierte bei „Emilia Pérez“ einfach nicht. Dann habe ich in der Nacht einen Traum gehabt und habe gedacht, das Leben findet ja im Hintergrund statt, und das Leben ist aber das, was den Film ausmacht. Dann habe ich den Hintergrund aufgeheizt, hab da Leben reingebracht und dann die Schauspielerinnen und Schauspieler da reingeschmissen: Kommt hier klar, das ist das Leben. Ihr seid im Leben, jetzt spielt.
Für ein Musical wird die Musik in „Emilia Pérez“ auf eine sehr spezielle Art eingesetzt. Lieder werden angespielt, entstehen aus Szenen heraus, aus Geräuschen, die man hört, die einen Rhythmus bekommen, verebben dann wieder. War es Ihre Absicht, das Genre Musical neu zu erfinden?
Musikalische Komödie ist ein Genre, dass mir eigentlich fern ist, das mir gar nicht so sehr liegt. Deshalb habe ich eine große Distanz und fühle mich frei bei der Arbeit mit dem Genre. Am Anfang war es schwierig, den Film als Ganzes zu betrachten, aber jetzt, wo er fertig ist, spürt man die DNA der Oper. Gemeinsam mit Clément Ducol und Camille, dem Songwriter/Komponisten-Team, haben wir beschlossen, dass die Lieder, der Gesang, die gesungenen Worte, die Art, sie zu singen, die Story voranbringen müssen. Es sind keine Lieder über die Vergangenheit, die noch einmal etwas nacherzählen, sondern sie haben eine dramaturgische Funktion und bringen den Film voran.
Haben diese Songs, hat das Opernhafte, die Funktion, die emotionale Wahrhaftigkeit des Films zu unterstreichen?
Es war für uns alle das erste Mal, dass wir so einen Film gemacht haben, insofern waren wir alle Jungfrauen. Manchmal mussten wir etwas umschreiben und lernen, dass im Gesang alles schneller geht. Gesang kommt schneller in den Kopf, er verankert sich im Gehirn, er bleibt schneller, besser und länger hängen. Sonst muss man zum Beispiel eine Situation fünf Seiten lang beschreiben, die Musik ist da viel effizienter, da wird das in drei Zeilen abgehandelt.
Mir scheint es so, dass gerade die nicht gesungenen musikalischen Elemente den Puls des Films definieren und ihm die raue Dringlichkeit geben, die seine Kraft ausmacht.
Das ist lustig, die Arbeit an dem Film war sehr komplex, und wir haben uns da oft geirrt. Ursprünglich war meine Idee, dass die Lieder das Mexikanische des Films transportieren würden. Das hat aber nicht funktioniert. Wir haben lange gebraucht, bis uns klar wurde, dass der Score, also die nicht gesungenen musikalischen Elemente, der rote Faden sind, der diesen Film zusammenhält. An ihm entlang entwickelt sich die Handlung, allerdings sollte überall die menschliche Stimme im Vordergrund stehen. Deshalb ist der Score, dieser musikalische Faden, aus menschlichen Stimmen zusammengesetzt. Das ist etwas, was man bei der Produktion solcher Filme selten findet.
War es Ihnen wichtig, dass in Ihrem Film, der sich mit der hemmungslosen Gewalt der Drogenkartelle in Mexiko befasst, auch eine Lösung aufscheint, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen und Menschlichkeit einkehren zu lassen?
Ja, das war ein wichtiger Teil des Projekts. Die Verwandlung von Emilia spielt in dem Zusammenhang die Rolle schlechthin. In einem Land, in dem in jedem Jahr 40.000 Personen einfach verschwinden, hat dieses Motiv natürlich auch eine politische Dimension. In einer Gesellschaft, die so gewalttätig und so sehr vom Machismus geprägt ist, ist der Wunsch eines Mannes, zu einer Frau zu werden, sicherlich ein Ansatz für eine Lösung. Aber zugleich ist Emilias Wunsch, mit den großherzigen Dingen, die sie tut und veranstaltet, die Welt zu ändern, ja nur eine Illusion.
„Emilia Pérez“: Preview am 25. November (20 Uhr) im Zeise; regulärer Kinostart ist am 28. November.
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