Hamburg. Der 73 Jahre alte Musiker öffnet ein nostalgisches Zeitfenster und zeigt tiefe Einblicke. Für den Wahlkampf seiner Landsleute entschuldigt er sich.
Der lebende Beweis, dass es nie zu spät ist, seine Träume zu verwirklichen, sitzt am Sonntag auf der Bühne im ausverkauften Mojo Club auf St. Pauli. Er ist 73 Jahre alt, hat tätowierte Arme und einen weißen Rauschebart: Seasick Steve. Das langjährige Straßenleben in den USA prägt seine Musik, doch die Finger fliegen in Hamburg noch immer geschwind über die Saiten der oft selbst gebauten Gitarren.
Zugegebenermaßen, ein Neuling ist er im Musikbusiness keineswegs mehr. „Entdeckt“ wurde er allerdings erst mit 53 bei einem Silvesterauftritt im englischen TV, es folgte der Durchbruch und eine steile Karriere: Das erste Studioalbum veröffentlichte er 2004, seitdem hat er 16 Alben herausgebracht und ist in Deutschland zum beliebten Festival-Act avanciert.
Konzert Hamburg: Seasick Steve singt im Mojo Club vom amerikanischen Wanderleben
Die Formel für seinen Erfolg? Lebensnahe Geschichten aus seiner Zeit als umherziehender „Hobo“ (dt. Wanderarbeiter, Landstreicher) in den USA, rhythmisch-tanzbarer Blues-Rock und wilde, zusammengeschusterte Gitarrenkonstruktionen. Oft handeln die Texte von den einfachen Dingen des Lebens, zum Beispiel dem friedlichen Dasein als „Walking Man“, den nur die Liebe an einen Ort binden kann.
Egal ob Kalauer aus der Wanderzeit oder simple Lebensweisheit: Die Musik von Seasick Steve ist am Sonntag immer tanzbar. Gemeinsam mit Gitarrensupport aus den USA und dem schwedischen Drummer Dan Magnussen, der mit orangefarbener Schönwetterbrille und lässigem Habitus das Schlagzeug torpediert, wird Tanznummer auf Tanznummer musiziert. Dazu bespielt Steve über ein halbes Dutzend Gitarren in verschiedensten Variationen und Besaitungen.
Seasick Steve entschuldigt sich für die Situation in den USA
Die Songs handeln mal von dem harten Wanderleben und mal von den simplen Dingen, die es so lebenswert machen. Den guten Zeiten, die der „Summertime Boy“ Seasick Steve als langjähriger Tontechniker auf den Bühnen Amerikas hatte, aber auch von der Sehnsucht nach einem ruhigen Landleben. Die Devise: „Move to the country“. „And leave your phones behind“, meint Steve dazu. Die ausgeprägte Abneigung gegen die kleinen, mobilen Endgeräte ist ihm anzumerken. Einige Besucherinnen und Besucher halten natürlich trotzdem gnadenlos jeden Song in fragwürdiger Handyqualität für die Nachtwelt fest. Das wird jedoch gekonnt ignoriert.
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Zu der bevorstehenden US-Wahl habe er nicht viel zu sagen, er entschuldigt sich nur für den Wahlkampf seiner Landsleute und stellt die Frage: „Is that the best we got?“ Eine Antwort auf die rhetorische Frage gibt es nicht, stattdessen reminisziert er über JFK und Martin Luther King. Der Auftritt von Seasick Steve ist nostalgisch, träumt einer vergangenen Zeit hinterher. Er selbst ist dabei nie verbittert, sondern lebt offensichtlich im Moment und ist beflissener Situationskomiker. Ein unterhaltsamer und vor allem tanzbarer Abend.
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