Hamburg. Der griechisch-russische Dirigent und seine Elitecombo namens Utopia bringen mit Mahlers Fünfter die Elbphilharmonie zum Kochen.

  • Das Orchester Utopia verzauberte sein Publikum in der Elbphilharmonie mit einer einmaligen Interpretation von Mahlers Fünften.
  • Teodor Currentzis interpretierte besonders den ersten Satz der Sinfonie in einem auffällig langsamen Tempo.
  • Besonders derer Solohornist und der Solotrompeter des Orchesters Utopia spielten eine zentrale Rolle während des Konzerts.

Als sie sich treffen, der eine auf dem Weg nach unten zum Dirigenten und der andere auf dem Weg zurück zum Platz, umarmen sie sich. Der Solohornist und der Solotrompeter des Orchesters Utopia haben gerade in der Elbphilharmonie Mahlers Fünfte gerockt, das Publikum tobt. Da lässt der Dirigent Teodor Currentzis sie nicht nur einzeln aufstehen für den Extra-Applaus, sondern holt sie ganz nach vorn.

Teodor Currentzis und das Orchester Utopia bringen mit Mahler die Elbphilharmonie zum Beben

Die beiden sind Herz und Seele der Aufführung. Der Trompeter beginnt die Sinfonie ganz allein mit dem Trauermarsch-Motiv, das er erst wie für sich hintupft, ganz zart, und dann immer weiter aufbaut, bis der Aufschrei eines gequälten Menschen daraus wird, überrollt vom gleißenden Tutti. Currentzis nimmt diesen ersten Satz recht langsam. Er geht in die Extreme, wo er kann, auch dynamisch. Leise Stellen sind bei ihm oft fast unhörbar.

Es ist ein Paradox: Mit einer riesigen Streicherbesetzung kann man besonders leise spielen – mit einer solchen zumal. Je 20 erste und 20 zweite Geigen sind allein dabei, die Streicher produzieren eine berückende Klangvielfalt, mal geisterhaft fahl und mal warm und beseelt. Mehr als 110 Musikerinnen und Musiker hat Currentzis versammelt, samt fetter Bläserbesetzung mit allein sechs Hörnern (plus einer Verstärkung) und mehreren Schlagwerkern. Der Apparat sprengt fast die Bühne.

Der Hornist macht das Scherzo zum Höhepunkt der Sinfonie

Wer die Mitwirkenden sind, darüber hüllt sich nicht nur das Programmheft in Schweigen, das Orchester hat auch keine Webpräsenz. Ein Kurztext auf der Homepage von Currentzis ist alles. Ist das ein gehobenes Telefonorchester ohne eigene Strukturen? Oder will man Spekulationen über personelle Überschneidungen mit dem Vorgängerensemble MusicAeterna den Boden entziehen, das wegen seiner regimenahen russischen Finanzquellen ins Gerede gekommen war?  

Der namenlose Hornist jedenfalls macht das Scherzo zum Höhepunkt der Sinfonie. Er bringt die Melodie hinreißend zum Tanzen, dann wieder füllt er den ganzen Saal mit seinen verzweifelten Fortissimo-Rufen. So subtil gestaltet, so expressiv ist die halsbrecherische Partie selten zu hören. Es ist, als verkörperte das Horn den Komponisten höchstselbst. Und dann kommt ja noch das Lenor-flauschige Adagietto. Da zerpflückt Currentzis das Metrum geradezu, weil er in jedem Übergang förmlich badet. Kann man machen. Muss man mögen.

Teodor Currentzis zelebriert Stille immer gern

Vorweg haben sie die nagelneue „Passacaglia – Music for Orchestra IX“ von Jay Schwartz gespielt, laut Programmheft eine mikroskopische Auseinandersetzung mit dem Lied „Du bist die Ruh“ von Schubert. Darauf käme man beim Hören eher nicht. Allemal ist das Stück ein Naturereignis in Tönen, den Kopf braucht man nicht einzuschalten: Meeresrauschen in den tiefen Streichern, Tuba, Kontrafagott und den fast unhörbaren Wirbeln der großen Trommel. Glissandi schieben sich im Zeitlupentempo durchs Orchester. Auf dem Höhepunkt wird das Publikum schier von einem brüllenden Orkan weggeweht, dann nimmt das Ganze sehr langsam wieder ab bis zum Ende. Currentzis zelebriert Stille ja immer gern, hier allerdings kann jemand die Spannung nicht aushalten und klatscht hinein.

Eigentlich braucht so ein Mammutprogramm keine Zugabe. Doch es erklingt der Choral „Jesus bleibet meine Freude“ BWV 147 in einer Mini-Orchesterbesetzung, alle anderen geben den Chor. Currentzis lässt auch hier den Schluss im Nichts verschwinden, die Oboe steigt sogar vor den anderen aus. Das hat Bach zwar so nicht geschrieben, aber so ein Effekt macht sich immer gut.

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Ohne Manierismen geht es halt nicht ab bei diesem Dirigenten. Ganz unmanieristisch in Erinnerung bleiben wird der Anblick des jungen Solohornisten, wie er da inmitten seiner Kollegen steht, das Notenblatt in der Hand. Und singt. Und strahlt.

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