Hamburg. Theatergruppe Nesterval erzählt vom Schicksal des geschwängerten Gretchen – und von Frauenschicksalen der 1960er-Jahre.
Leutselig begrüßt der Hoteldirektor das Publikum beim Check-in an der Rezeption des Hotels Nesterval. Jede Kleingruppe erhält einen Zimmerschlüssel. Mit rund 200 weiteren Gästen nimmt man am Saisonabschluss im noblen Hotelfoyer teil und merkt, irgendetwas stimmt nicht. Ein Kellner läuft mit durchnässtem Hemd durch die Hotelhalle. Eine junge Frau kippt um. Die Zimmermädchen in ihren rosafarbenen Kleidchen haben etwas Diabolisches. Und dann steht da auf einmal eine „Frau Karl“ im Raum und fordert den Hoteldirektor zu einer Wette auf.
Erinnert irgendwie an Goethe. Richtig. Die Wiener Theatergruppe Nesterval um ihren künstlerischen Leiter Martin Finnland lädt anlässlich ihres alljährlichen Besuchs beim Internationalen Sommerfestival Hamburg bis zum 23. August (wenige Restkarten jeweils an der Abendkasse) erneut zu ihrem beliebten immersiven Volkstheater mit „A Dirty Faust“.
„A Dirty Faust!“ auf Kampnagel: Die Männer haben das Sagen
Von den 47 Räumen einer ehemaligen Volksschule an der Seilerstraße auf St. Pauli erlebt jede Besucherin und jeder Besucher auf seinem dreistündigen Parcours nur einen Bruchteil. Je nachdem, welchen der an die 20 Figuren man im Laufe des Abends folgt, ergibt sich ein anderer Erzählstrang – und das Publikum entscheidet mit über den Fortgang der Handlung.
Auf der Folie der Wette von Faust und Mephisto erzählt „A Dirty Faust“ vom Schicksal des geschwängerten Gretchen – und von Frauenschicksalen der 1960er-Jahre zwischen verbotener Abtreibung und Suizid.
Das Publikum ist dicht dabei, wenn sich in den aufwendig mit Retromöbeln hergerichteten Zimmern Dramen abspielen, etwa das der Familie Möbius, deren Töchter in den Sog der dubiosen Tanzlehrer Valentin und Leo geraten. Valentins – und Gretchens – Mutter wiederum wird von ihrem Sohn in einem Raum mit viel zerschlagenem Porzellan gewalttätig angegangen. Die Männer haben das Sagen, nicht nur beim „Mambo“, dessen Schritte man im Tanzsaal lernt. Einige Figuren landen im Keller, wo sich die finstere Natur des Hotels offenbart: eine geheime Abtreibungsklinik der 1960er-Jahre.
„A Dirty Faust!“: Drei Zimmermädchen, pardon Hexen, lächeln diabolisch
Die Theater-Performance zeigt verzweifelte, unglückliche Frauen – und auch Männer –, von denen einige den Sprung in die Selbstbehauptung schaffen, andere desillusioniert tödliche Tinkturen trinken. Die drei Zimmermädchen, pardon Hexen, lächeln diabolisch dazu, und in einer wilden Walpurgisnacht werden Lust und Laster hemmungslos im Hotelfoyer ausgelebt.
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„A Dirty Faust“ hat nicht die inhaltliche Stringenz, die die Vorjahresproduktion „Die Namenlosen“ auszeichnete, doch die Erzählung auf Basis des Goethe-Klassikers zieht gekonnt in das Geschehen hinein. Auch wenn sich das Gesamtbild erst in der Interaktion mit den Zimmergenossinnen und -genossen vervollständigt. Wenige Restkarten.
Internationales Sommerfestival bis 25.8., Kampnagel, Jarrestr. 22–24, Karten unter T. 27 09 49 49; www.Kampnagel.de