Bremen. Musikalisches Friedensgebet: Das West-Eastern Divan Orchestra, Daniel Barenboim und Anne-Sophie Mutter beginnen Europa-Tour in Bremen.
„Humanismus ist die letzte Verteidigungslinie, die wir haben, um uns gegen die unmenschlichen Praktiken und die Ungerechtigkeiten zu wahren, die unsere Menschheitsgeschichte verunstalten.“ Das hatte Daniel Barenboim, friedlich kämpferisch wie immer, im April in einen Programmtext vom West-Eastern Divan Orchestra (WEDO) geschrieben, jenem Orchester, das er vor 25 Jahren auch als moralische Instanz gegründet hatte. Für Musikerinnen und Musiker aus der arabischen Welt und aus Israel, geeint durch Musik.
Jetzt kamen Barenboim, 82 Jahre alt, von seiner neurologischen Erkrankung gezeichnet, und das WEDO für ein Sonderkonzert zum Musikfest Bremen. Diesem Start der Jubiläums-Europatournee in der Bremer Glocke folgen erste Adressen wie Salzburg, Luzern und Berlin. Mit Anne-Sophie Mutter, Brahms‘ Violinkonzert und Schuberts Achter – und der Ungewissheit, was gerade jetzt, stündlich, mit und in und um Israel herum passieren könnte. Nach unbeschwertem Feiern eines Orchesterjubiläums ist sicher niemandem zumute.
Immer wieder hat Barenboim, der seit 2008 als einziger Mensch weltweit die israelische und die palästinensische Staatsangehörigkeit besitzt, sich zu diesem Konflikt geäußert, weil er immer wieder aufloderte. Immer wieder hatte er für Dialog plädiert, für Einsicht und Toleranz. Im letzten Oktober hatte er in einem Zeitungsartikel gefordert: „Unsere Friedensbotschaft muss lauter sein denn je.“ Im April in einem anderen gemahnt: „Ja, Israel hat das Recht, sich gegen den Terrorismus zu verteidigen, aber nein, Israel hat nicht das Recht, in diesem Prozess ein ganzes Volk auszurotten, auszuhungern und zu vertreiben.“
Musikfest Bremen: Drei Orchestermitglieder verlesen vor Konzertbeginn Statements
Jetzt aber sagte Barenboim öffentlich sehr laut: nichts. Es gab keine Interviews vorab mit ihm, über die schrecklichen Unsicherheiten und Gefahren. Man könnte nur spekulieren, wie die Stimmung im WEDO gerade ist.
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Deswegen verlasen drei junge WEDO-Mitglieder vor Konzertbeginn kurze Statements. Alle, die dabei sind, sind so jung und wollen, trotz der Ereignisse seit dem Massaker am 7. Oktober, weiter miteinander spielen. „Während wir mitansehen und betrauern, wie Zehntausende von Leben zerstört und Ortschaften in Trümmer gelegt werden, sind wir als Orchester entsetzt und zutiefst betrübt angesichts des extremen Ausmaßes anhaltender Gewalt im Nahen Osten“, berichtete eine Musikerin.
„Der humanistische Einsatz von Maestro Daniel Barenboim und dem verstorbenen palästinensischen Intellektuellen Edward Said bilden den Kern unseres Orchesters. In der Musik und durch sie streben wir nach gegenseitiger Anerkennung zwischen Gleichen“, fuhr eine andere fort. „Wir fordern die Führer lokaler und internationaler Gemeinschaften dazu auf, das Zögern und den Kreislauf der Gewalt durch einen dauerhaften Waffenstillstand zu beenden sowie die Sicherheit aller Geiseln und politischer Gefangener zu gewährleisten“, sagte einer der Musiker, bevor Barenboim auf die Bühne kam, sehr langsam, sehr behutsam.
„Jetzt geben wir ihm etwas zurück“
Barenboim sei für sie wie ein Vater, berichteten Orchestermitglieder später in der Konzertpause. Er habe in den 25 Jahren so viel gegeben und ermöglicht, er habe Studienplätze, Stipendien und Auftrittsmöglichkeiten organisiert. „Jetzt geben wir ihm etwas zurück.“
„Uns läuft die Zeit davon“, so war Barenboims letzter politischer Appell überschrieben. Auch für ihn gilt das, für alle sichtbar. Er ist schmal geworden und zerbrechlich, und nicht nur Anne-Sophie Mutter, bekannt als „Star Wars“-Fan, wird sich beim Anblick dieser greis gewordenen Größe auf seinem Stuhl an den weisen, aber nicht milden Jedi-Meister Yoda erinnert fühlen. Ein Orchester im Stehen souverän anzutreiben, das geht für Barenboim nicht mehr. Es dennoch zu führen, das aber ist ihm geblieben.
So begann ein Abend, der rührend war, erhaben und niederschmetternd zugleich. Während er einen extralangen Taktstock so gut wie nicht zum Einsatz brachte und sich kaum bewegte, dirigierte Barenboim vor allem mit seiner Lebensleistung. Sein Sohn Michael half vom Konzertmeister-Pult aus dezent mit.
Anne-Sophie Mutter wollte Brahms nicht mit Barenboim spielen, sondern für ihn
Brahms hat an den Beginn seines Violinkonzerts ein „Allegro non troppo“ gesetzt, ein „nicht allzu heiter“. Hier blieb das Stück, weltenweit davon entfernt, fast auf der Stelle stehen, weil Barenboim ab der ersten Note der Musik wehmütig zuzuhören schien, auch die vielen Gesterns und Vorgesterns mit diesem Konzert und so vielen anderen zeitentrückten Meisterwerken erinnernd. Mutter nahm ihm einen Großteil seiner Arbeit ab, ein liebevoller Freundschaftsdienst, sie ließ sich auf diese meditative Grübelei ein.
Im langsamen, hier: wirklich sehr langsamen Satz war vieles im Orchester noch handwerklich unfertig, unpoliert. So schade wie letztlich unwichtig. Und es wurde mehr und mehr klar, dass Mutter diesen Brahms nicht mit Barenboim spielen wollte, sondern für ihn, der währenddessen gedankenversunken in der Musik blätterte wie in einem alten Tagebuch. Im Finalsatz übernahm Mutter endgültig die Tempogestaltung, warf sich ins Geschehen wie ein Rennpferd, das endlich noch mal rauswollte auf die Bahn, die seine Bestimmung ist.
Während des Beifalls blieb Barenboim sitzen, Mutter spielte nach „diesen sehr bewegenden Worten“ des Beginns die Sarabande aus Bachs d-Moll-Partita, als ein „musikalisches Gebet“, zornig, traurig, demütig zugleich.
Aus Schuberts „himmlischen Längen“ wurden himmlische Überlängen
Schuberts Achte war wie der Brahms, nur noch statischer, festgemauert im Bühnenboden, näher an Bruckner als an Beethoven. Vor allem aber erinnerte sich Barenboim an Schubert und an die gemeinsam erlebte Zeit. Aus Schuberts „himmlischen Längen“ wurden für ihn himmlische Überlängen. Wie sehr das Orchester mit ihm trauerte und trotz der Musik unter den Abgründen der Gegenwart litt, enthüllte die Zugabe, das Scherzo aus Mendelssohn „Sommernachtstraum“, das so gar nichts unbelastet Schwebendes hatte.
Während das Saallicht hochfuhr, umarmten sich alle Orchestermitglieder. Am nächsten Morgen, die Hamas hat gerade einen Ultrahardliner zum nächsten Führer ernannt, lautete eine Zeitungsschlagzeile zum x-ten Mal „Frieden in Nahost rückt in weite Ferne“.