Hamburg. Der Thalia-Darsteller André Szymanski über seine herausfordernde Rolle im Film „Die Ermittlung“, der in Hamburg Premiere feiert.
„Als ich meinen Text zum ersten Mal gelesen habe, war ich den Tränen nah.“ Der Text, von dem André Szymanski spricht, ist der Erlebnisbericht einer Folterung im Konzentrationslager Auschwitz. Der Schauspieler, seit 15 Jahren Ensemblemitglied am Thalia Theater, spielt in RP Kahls Kinofilm „Die Ermittlung“ einen Zeugen mit der Nummer 16. „Diese Opferzeugen, die alle dem Vernichtungslager Auschwitz entkommen sind, haben keinen Namen und auch keine Biografie. Aber sie wollen darüber berichten, was ihnen in Auschwitz passiert ist oder was sie dort gesehen haben. Meine Aufgabe ist es, davon zu berichten. Sachlichkeit hilft, weil das Grauen sich so am besten in den Zuschauerraum übertragen lässt“, sagt Szymanski.
Die Vorlage zu RP Kahls vierstündigem Film liefert Peter Weiss‘ Theaterstück „Die Ermittlung. Ein Oratorium in elf Gesängen“. Es wurde am 19. Oktober 1965 als Ring-Uraufführung parallel in 15 ost- und westdeutschen Theatern und von der Londoner Royal Shakespeare Company gezeigt. Darin geht es um die Auschwitz-Prozesse, die zwischen 1963 und 1965 in Frankfurt am Main stattgefunden haben und an denen der Dramatiker Weiss teilgenommen hat. 39 Zeugen und 18 Angeklagte bietet RP Kahl auf, Weiss hat die Aussagen in seinem dokumentarischen Stück auf neun Zeugen verdichtet.
Kino Hamburg: In „Die Ermittlung“ als namenloser Zeuge in den Auschwitz-Prozessen
Gedreht wurde in einer großen Halle in Berlin-Adlershof. Acht Kameras nahmen die einzelnen ungeschnittenen Einstellungen auf. „Vor Drehbeginn gab es eine vierwöchige Probenzeit für das Ensemble. Bei der Aufnahme wurde jeder Gesang dreimal wie ein Theaterstück gespielt. Zu meinem Teil gehörten drei Zeugenaussagen, die Aussage eines Angeklagten sowie die Erwiderungen von Richter, Staatsanwalt und Verteidiger“, erzählt Szymanski. Die drei Schlüsselfiguren werden von Rainer Bock (Richter), Clemens Schick (Ankläger) und Bernhard Schütz (Verteidiger) gespielt.
Die Stimmung am Drehort beschreibt Szymanski als „speziell“. „Alle haben ihre Eitelkeiten weggesteckt. Außerhalb des Sets wurde viel geraucht, aber nicht gefrotzelt, wie das sonst üblich ist. Durch das Thema entstand eine Gemeinschaft, wie ich sie so an einem Film-Set noch nie erlebt habe.“
Die Auschwitz-Prozesse waren André Szymanski noch sehr gegenwärtig, als er für die Rolle angefragt wurde. 2014 hat er den Journalisten Thomas Gnielka in Giulio Ricciarellis Spielfilm „Im Labyrinth des Schweigens“ gespielt. Gnielka versorgt darin den Generalstaatsanwalt Fritz Bauer mit wichtigen Informationen und Zeugenaussagen zu den Verbrechen in Auschwitz, auf deren Basis die Prozesse mit den Mordanklagen überhaupt in Gang gebracht werden konnten. „Für die Recherche wurden uns damals Audioaufnahmen aus den Prozessen zur Verfügung gestellt. Was wir gehört haben, war grauenhaft und unfassbar“, so Szymanski.
Kino Hamburg: Peter Lohmeyer und Christiane Paul spielen weitere Zeugen
„Ich war damals akribisch in der Vorbereitung. Mir war bei beiden Filmen die Verantwortung klar, die ich übernehme. Es sind keine Spielfilme, die man mal eben so macht. Bei der ,Ermittlung‘ habe ich mich gefragt, ob ich den richtigen Ton getroffen habe. Ich stehe in der Verantwortung vor der Geschichte und vor der Figur, die namentlich nicht benannt ist, aber die stellvertretend für viele steht.“ In „Die Ermittlung“ bekommen die Leiden der Auschwitz-Insassen durch die vielen Schauspieler eine Stimme. Die Zeugen werden unter anderem von Peter Lohmeyer, Christiane Paul, Robert Hunger-Bühler, Nicolette Krebitz, André Hennicke und Tom Wlaschiha gespielt.
„Es geht um die Opfer und ihre Geschichten“, sagt Szymanskis Figur Thomas Gnielka in „Im Labyrinth des Schweigens“. Genau darum dreht sich auch Kahls Film, der Theater und Kino in seiner beeindruckenden Leinwand-Adaption zusammengeführt hat. Angesichts der Wichtigkeit und der Aktualität des Themas waren Kahl und sein Team enttäuscht bis bestürzt darüber, dass „Die Ermittlung“ in diesem Jahr nicht bei der Berlinale gezeigt wurde.
RP Kahl sei von der Festivalleitung mitgeteilt worden, dass im diesjährigen Programm bereits ausreichend Filme über den Holocaust vertreten seien, so Szymanski. Außerdem seien mangelnde künstlerische Originalität und Überlänge moniert worden. „Ich habe mich über diese Ablehnung extremst geärgert“, sagt der Schauspieler. „Ein deutscher Film mit diesem Mut hätte in einer der vielen Reihen bei der Berlinale laufen müssen!“
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Uraufgeführt wurde „Die Ermittlung“ gerade beim Filmfest München. Die Hamburger Premiere ist an diesem Donnerstag um 18.30 Uhr im Zeise Kino. Neben André Szymanski werden auch Schauspielerkollege Peter Lohmeyer und Regisseur RP Kahl anwesend sein. „Wir hoffen, dass wir möglichst viele junge Leute in diesen Film bekommen. Er bietet großartiges Material für Schulen. Die dokumentarischen Texte von Schauspielern zum Leben erweckt zu sehen, hat eine stärkere Kraft, als sie selbst zu lesen. Also: Zeigen! Anhalten! Nacharbeiten!“
„Die Ermittlung“, ab 12 Jahren, läuft ab Donnerstag im Zeise