Hamburg. Manchmal wollen die Stücke klüger sein als ihre Interpreten, trotzdem legt die US-Punkband ein mitreißendes Konzert auf St. Pauli hin.
Böse Zungen behaupten, Bad Religion hätten im Verlauf ihrer mittlerweile 44-jährigen Karriere nur zwei Songs geschrieben: einen schnelleren und einen nicht ganz so schnellen. Und beim ersten von zwei ausverkauften Konzerten am Freitagabend im Docks wird klar, weswegen dieses Gerücht sich so hartnäckig hält.
Die Stücke der US-Punkband sind alle ähnlich arrangiert, Schlagzeug, Rhythmusgitarre und Bass knüppeln, Gesang und Leadgitarre legen Melodien darüber, klingt tatsächlich alles vergleichbar. Nur wenn man ein bisschen darauf achtet, wie raffiniert, wie ausgefeilt, wie, ja: himmlisch diese Melodien sind, dann wird klar, dass das doch nicht alles dasselbe ist. Aber besonders originell ist es eben auch nicht mehr, nach insgesamt 17 Platten.
Bad Religion im Hamburger Docks: Ist das noch Punkrock?
Die jüngste, „Age Of Unreason“, erschien 2019, und im Docks wird nur ein einziges Stück von davon gespielt, „My Sanity“ (mit böser Anspielung auf den Gesundheitszustand des US-Präsidenten). Im Vergleich gibt es drei Songs aus dem 1982er-Debüt „How Could Hell Be Any Worse?“ – Aktualität benötigt die Punkband Bad Religion angesichts ihres riesigen Backkatalogs nicht, die Band kann sich darauf beschränken, ihre großen Erfolge ins Publikum zu jagen. Und davon gab es tatsächlich einige, was bemerkenswert ist für Musiker, die sich der leichten Vermarktbarkeit immer verweigert haben: „American Jesus“, „Recipe For Hate“, „21st Century Digital Boy“. Letzteres ist immer noch ein mitreißender Song, auch wenn er textlich mittlerweile ein gewisses Fremdschämpotenzial entwickelt hat. Da erinnert diese eigentlich hochpolitische Band an ein älteres Lehrerkollegium, das beim Elternabend vor den Gefahren des Internets warnt.
Bad Religion im Hamburger Docks: Sänger sieht aus wie ein Lehrer
Apropos Lehrer: Sänger Greg Graffin sieht mittlerweile auch aus wie ein gar nicht mal schlecht gealterter Lehrer, mit dickrandiger Brille, kurzem Haar und engem Hemd, das sich über einem kaum sichtbaren Bäuchlein spannt. Und es stimmt ja auch – der 59-Jährige ist im Zweitjob promovierter Evolutionsbiologe, der an der University of California und der Cornell University lehrt. Ist das noch Punkrock?
Blöde Frage. Als Zugabe singt Graffin „Punk Rock Song“, was vor allem eine intelligente Dekonstruktion des Punkrock-Dogmatismus ist. Intelligenz schlägt reine Lehre, das zieht sich durch das gesamte Konzert, und manchmal wollen die Stücke klüger sein als ihre Interpreten. Dann stolpert die Stimmung ein wenig, und das Bier schmeckt schal. „Die Reeperbahn ist nicht mehr, was sie mal war“, versucht der Sänger zaghafte Gentrifizierungskritik, „alles ist so sauber.“ Naja, als ob das das Publikum nicht längst wüsste. Und dann spielt Brian Baker wieder solch eine berührende Melodie auf der Gitarre, dass man vergisst, wie diese Ansage eben ein bisschen peinlich war.
Bad Religion im Docks: Der Songwriter schwänzt den Auftritt in Hamburg
Wo Baker diese Melodien hernimmt, erkennt man dann plötzlich bei „We’re Only Gonna Die“: aus den sich selbst in höchste Höhen schraubenden Harmonien des Irish Folk, die nur noch in Spurenelementen vorkommen, aber im Grundgerüst der Songs weiterleben. Verantwortlich dafür ist Hauptsongwriter Brett Gurewitz, der zwar als Gitarrist noch Bandmitglied ist, Konzerte außerhalb des Großraums Los Angeles aber meist schwänzt.
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Auch im Docks ist er nicht dabei, zu viel zu tun, das bandeigene Label will gemanagt werden. Egal: Die Band Bad Religion funktioniert, egal, wer da auf der Bühne steht, als mitreißendes, intelligentes, sympathisches Versprechen, dass Rock immer relevant bleibt. Dass sich das alles mehr oder weniger ähnlich anhört – sei es drum. Man weiß ja, dass das nicht stimmt.