Avignon. Festival in Frankreich reagiert auf Erfolge der Rechtsradikalen. Eine besonders eindrucksvolle Arbeit kommt zum Sommerfestival auf Kampnagel.

„Legt euch hin, als ob ihr tot wäret. Denkt einfach an die Ergebnisse der Parlamentswahlen.“ Bittere Ironie klingt aus der Stimme des französischen Choreografen und Tänzers Boris Charmatz, als er seine neue Kreation „Cercles“ beim 78. Festival d’Avignon, einem der größten und bedeutendsten Theaterfestivals der Welt, in der mittelalterlichen Papststadt vorstellt.

Dabei ist es eine überaus lebensbejahende, Menschen verbindende, angesichts der politischen Lage in Frankreich beinahe trotzige Tanzperformance. Auf dem Rasen des Fußballstadions von Bagatelle versammeln sich 200 Tanzende, Amateure und Profis, zu einer Art Freiluft-Tanzlabor als Work in Progress. Zur treibenden Techno-Blasmusik der Hamburger Band Meute erforschen die Tanzenden die Kreisfigur. Mal rollen Körper einander umarmend übereinander, mal springen und laufen sie in enthemmter Ekstase oder nehmen kämpferische Posen ein. Kaum lassen sich historische Zitate und zeitgenössische Bewegungen unterscheiden. Charmatz hat seit Langem eine enge Beziehung zu Deutschland und gastierte vielfach auch in Hamburg. Seit 2022 leitet er das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. In Avignon präsentiert er als Artiste Associé auch seine erste Wuppertaler Arbeit „Liberté Cathédrale“ – ebenfalls unter freiem Himmel.

Theaterfestival Avignon: Schön-Schreckliches bald auch in Hamburg

Auf den ersten Blick ist also alles wie immer in Avignon. Die Zikaden halten fröhlich ihre Konzerte ab. Die Laternenmasten ächzen unter der Last Hunderter Plakate. Mehr als 130.000 Theaterfans aus aller Welt werden sich bis zum 21. Juli durch die kochenden Gassen der Papststadt und an Dutzenden Gauklern vorbeischieben. Drei Wochen lang dreh t sich hier alles ums Theater. Um die 35 Produktionen und zwei Ausstellungen des Festivals „On“ und um die unfassbaren 1683 (!) weiteren Vorstellungen des Festivals „Off“.

Reportage Avignon
Diese fantasievoll kostümierte Gruppe führt in Avignon das Musical „Außer Atem“ auf. © Annette Stiekele | Annette Stiekele

Da verspricht etwa eine fantasievoll kostümierte Gruppe zu „Außer Atem“ nach Claude Nougaro eine Lektion in Menschlichkeit als Musical-Spektakel. Daneben preist eine andere eine Art Kissen-Geister-Tanzabend an. Alles wie bei den vergangenen Festivalauflagen, und doch ist manches anders in diesem Jahr.

Die Parlamentswahlen in Frankreich mit der realen Bedrohung einer Machtübernahme der extremen Rechten überschatten alles. Festivaldirektor Tiago Rodrigues tritt am Ende der Premiere des von ihm inszenierten Abends „Hécube, pas Hécube“ vor das Publikum. Das Festival sei bereit, vom Modus des „Feierns“ in jenen des „Widerstandes“ zu wechseln, kündigt er unter starkem Beifall an.

Widerständiges, Radikales, Politisches lässt er in seiner zweiten Festival-Ausgabe häufig auf die steinernen Mauern der unzähligen Kloster- und Schulinnenhöfe prallen. In diesem Jahr mit einem Programm, das neben spanischen Kunstschaffenden auffällig vielen weiblichen Stimmen Raum gibt. Vor der erhabenen Kulisse des Steinbruchs von Boulbon versammelt Rodrigues ein erlesenes Ensemble der Comédie-Française um den Filmstar Denis Podalydès.

Die Hauptrolle jedoch gehört auch hier einer Frau: Elsa Lepoivre spielt Nadia, eine Schauspielerin, die zunehmend zerstreut Euripides‘ „Hecuba“ probt, während sie immer wieder in den Gerichtssaal eilt, um – sehr frei angelehnt an die Titelfigur der griechischen Tragödie – für ihren in einer Institution misshandelten neurodiversen Sohn zu kämpfen. Die Verschränkung aus Mythologie und Moderne funktioniert zwar nur teilweise; die Geradlinigkeit der Figur Hekabe, die Rache am Mörder ihres Sohnes nehmen will, ist doch weit von Nadias Irrweg durch eine Gerichtsbarkeit entfernt. Dennoch entfaltet der formal reduzierte Abend vor der eindrucksvollen Kulisse einige Text-Magie.

„Los días afuera“ wird auch beim Internationalen Sommerfestival in Hamburg zu sehen sein

Eine der starken Frauenstimmen ist die in Berlin lebende Argentinierin Lola Arias, im vergangenen März mit dem Internationalen Ibsen Preis ausgezeichnet. In der Oper von Avignon präsentiert sie ihre neue dokumentarische Theater-Arbeit „Los días afuera“, die im Anschluss zum koproduzierenden Internationalen Sommerfestival Hamburg auf Kampnagel weiterreisen wird. Für die eindringlichen Geschichten sechs ehemaliger Gefängnisinsassinnen – darunter ein Trans-Mann und eine Trans-Frau – hat sie die leichtfüßige Form des Musicals gewählt. Ein Kontrast, der das Schöne im Schrecklichen sucht und findet.

„Musik ist das Werkzeug des Widerstandes im Gefängnis“, sagt Arias, die ihre Performerinnen bei Workshops in einem Gefängnis von Buenos Aires fand, am Morgen nach der bejubelten Premiere. „Die Musik gibt ihnen eine Möglichkeit, ihr Talent, ihre Kraft zu zeigen. Sie gibt ihnen die Möglichkeit, über ihre Geschichten zu sprechen.“ Die bildstarke Performance lebt von genau gearbeiteten Szenen, die etwa in einem Auto vor einem Greenscreen erzählt werden, Musik aus der Cumbia-Tradition und viel lebensweisem Humor. Die Hürden bei Aufbau eines neuen Lebens in Freiheit werden sichtbar – aber auch das Glück von neu gefundener Gemeinschaft.

DAMON
Radikal: „Dämon“ von Angélica Liddell beginnt als Kritikerbeschimpfung und wird zur Dämonenaustreibung. © Christophe Raynaud de Lage/Festival d'Avignon | Christophe Raynaud de Lage/Festival d'Avignon

Sowieso keine Gefangenen macht die spanische Radikalperformerin Angélica Liddell. Mit „Dämon. El funeral de Bergman“ liefert sie die große Eröffnung im Ehrenhof des Papstpalastes ab und nimmt darin zunächst hämisch und leider wenig subtil Rache an all den Kritikern, die sie über Jahre verrissen haben, indem sie Zitate und dazugehörige Namen ausstößt. Das schwierige Verhältnis zur Kritik teilt sie mit dem schwedischen Filmemacher Ingmar Bergman.

Theaterfestival Avignon: Eindringliches Grabritual auf der Bühne

Nachdem sie das Wasser aus einem benutzten Bidet beherzt gegen die ehrwürdigen Mauern gespritzt hat, nimmt sie sich in einer eindrucksvollen Suada auch Bergmans Neigung zur Misanthropie und zum allzu Menschlichen vor. Bald entwickelt sich die Performance auf rot ausgekleideter Bühne zu einem eindringlichen Grabritual, einer geradezu kathartischen Dämonenaustreibung.

Furios schleudert Liddell ihre ebenso klugen wie herausfordernden Texte über die Sinnlosigkeit des Daseins, den Verlust der Eitelkeit und das Sterben heraus. Kombiniert ihre Textwasserfälle aber auch mit berührenden Bildern von Greisinnen und Greisen, leicht bekleideten jungen Frauen und gelegentlich entblößten, rasenden Totengräbern.

Caroline Guiela Nguyen gastierte mit ihren Arbeiten bereits am Thalia Theater

Eine weitere starke Frauenstimme ist jene der Theatermacherin Caroline Guiela Nguyen. Ihre mehrstündigen Abende, für die sie fast Filmset-artige realistische Räume mit viel Liebe zum Detail entwickelt, gastierten bereits am Thalia Theater. Ihr neues Werk „Lacrima“ spielt in der Welt der Haute Couture und verschränkt erneut mehreren Episoden rund um den Globus. Eine Atelierchefin soll ein exquisites Kleidungsstück für eine nur aus dem Off sprechende britische Prinzessin anfertigen und hat unter anderem mit indischen Stickereiunternehmern und einem eitlen Designer zu tun – hinzu kommen allerlei familiäre Probleme, die Nguyen ein wenig zu sehr auswalzt.

Man erfährt jedoch hochinteressante Hintergründe über die reale Brautschleier-Stickkunst aus Alençon (Unesco-Welterbe) in der Normandie, aber auch von den Fallstricken von Geheimhaltungsverträgen und Ethikabkommen. Und da ist Nguyen mit ihrer feinsinnigen Theater und Film verschränkenden Kunst wieder ganz am Puls der komplizierten Gegenwart. Wie überhaupt diese sehr politische Ausgabe des Festivals.

Festival d'Avignon 2024 LACRIMA
„Lacrima“ von Caroline Guiela Nguyen spielt in der Welt der Haute Couture. © Christophe Raynaud de Lage/Festival d'Avignon | Christophe Raynaud de Lage/Festival d'Avignon

Mehr Kultur

Kunstschaffende, Gewerkschaften und Vereine performen, diskutieren und protestieren in einer „Nacht von Avignon“ im ausverkauften Ehrenhof des Papstpalastes bis zur Morgendämmerung gegen die extreme Rechte. Boris Charmatz (sein Vater überlebte den Holocaust als Flüchtlingskind in der Schweiz) und sein 200-köpfiges „Cercles“-Ensemble sind mit einem kraftvollen revolutionären Tanz aus dem Jahr 1922 dabei. Ja, es gebe große Probleme mit der Sicherheit und dem öffentlichen Dienst, dem Klima und der Biodiversität, so Charmatz, aber die Lösungen könne man nur gemeinsam in den Werten der Demokratie finden, ohne Sündenböcke zu suchen. Auch Lola Arias – von Erfahrungen in Argentinien berichtend – und ihr Ensemble treten auf. Die bis sechs Uhr morgens dauernde Nacht ist eine besonders schlaflose in einem etwas anderen Festivaljahrgang.

Festival d’Avignon bis 21. Juli, Avignon; Infos und Programm unter www.festival-Avignon.com; Internationales Sommerfestival Hamburg 7.8. bis 25.8., Kampnagel, Jarrestraße 22-24, T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de