Hamburg. „10.000 Gesten“ von Boris Charmatz eröffnet die Saison in der großen Kampnagel-Halle: Man weiß gar nicht, wo man hinschauen soll.
Man weiß überhaupt nicht, wo man hinschauen soll. Ein Tänzer stochert zwischen den Zähnen. Eine Tänzerin zupft sich das Höschen zurecht. Und einer legt ein formvollendetes Plié hin. Alles gleichzeitig, in der (bis auf einige Leuchtröhren) leeren, großen Kampnagel-Halle, 20 Tänzerinnen und Tänzer, die kurze Szenen zu Mozarts „Requiem“ aufführen: „10.000 Gesten“ vom französischen Choreografen Boris Charmatz ist eine Überforderung.
Uraufgeführt wurde „10.000 Gesten“ vor zwei Jahren zum Start von Chris Dercons glückloser Intendanz an der Berliner Volksbühne; Charmatz war damals Teil des Leitungsteams, weswegen die Arbeit ein wenig von der aggressiven Anti-Dercon-Stimmung überlagert wurde. Jetzt, zur Saisoneröffnung auf Kampnagel, lohnt ein zweiter Blick auf die Choreografie, die sich als interessante Zusammenführung von High und Low, von Oben und Unten, von Kunst und Trivialitität entpuppt. Ob es nun tatsächlich 10.000 Gesten sind, die das Ensemble da vollführt, ist im Grunde egal, es geht darum, dass man es hier mit unzähligen Bewegungen zu tun hat: Bewegungen, die mal aus dem klassischen Ballett entnommen sind, mal aus der Popkultur und mal aus dem unspektakulären Alltag. „Musée de la Dance“ nennt Charmatz die Produktionsreihe, genau genommen ist „10.000 Gesten“ ein Museum der Bewegung.
Nach und nach schmuggeln sich verstörende Elemente in den Abend
Über weite Strecken feiert das Stück den tänzerischen Individualismus, der seine Kraft im Kollektiv ausleben kann – und transzendiert so den im klassischen Tanz wichtigen Gegensatz zwischen Solist und Corps de Ballett, auch wenn klassische Figuren immer wieder in Charmatz’ Repertoire auftauchen. Und nach und nach schmuggeln sich verstörende Elemente in den Abend: Zu den gezeigten Gesten zählen einerseits Momente des Feierns, des Abschieds von Hierarchie und Autorität, andererseits Suizid, Gewalt, Schmerz. Charmatz’ Stück ist nicht nur nett, vielleicht sind die Brüche und Verstörungen sogar im Vergleich zur Nettigkeit und zum Humor die wichtigeren Elemente der Produktion.
Zumal auch das Publikum nicht verschont wird. Einmal setzt sich eine Tänzerin einem Zuschauer auf den Schoß, versucht ihn zu küssen, was der überrumpelte Mann eindeutig abzuwehren versucht – ein Übergriff, den man nicht so einfach als künstlerische Strategie abtun sollte. In einer weiteren Szene flutet das Ensemble das Publikum, drängen sich halbnackte, schwitzende Körper zwischen den Zuschauern: In Zeiten von MeToo sollte solch ein körperlicher Zugriff auf das Publikum zumindest hinterfragt werden. Macht Charmatz aber nicht.
Als Eröffnungsproduktion verspricht „10.000 Gesten“ jedenfalls eine kontroverse Spielzeit. Ein Stück, das Hierarchien auflöst, ein Stück, das Grenzen (auch fahrlässig) überschreitet. Ein Stück, das es einem nicht leicht macht. Wird spannend.