Hamburg. Hamburger Orchestermitglieder arbeiten in den Sommerferien freiwillig. Warum? Weil es so besonders ist, auf dem Grünen Hügel zu spielen.
- Hamburger Orchester-Musiker verbringen alljährlich ihre Sommerferien in Bayreuth
- Sie empfinden das Miteinander als wenig hierarchisch: „Wir bringen Erfahrungen aus den Heimatorchestern ein“
- Im Graben herrschen tropische Hitze und drangvolle Enge.
Gerade wurden sie eröffnet, die legendären Bayreuther Festspiele, Wagners Liebesdrama „Tristan und Isolde“ in einer Neuinszenierung des isländischen Regisseurs Thorleifur Örn Arnarsson, es gab - wie in auf dem Grünen Hügel üblich, anschließend Jubel und Buhs (unsere Kritik lesen Sie hier). Doch auch hinter den Kulissen – oder vielmehr: unterhalb – gibt es Geschichten zu entdecken. Und manchmal sind es tatsächlich Hamburger Geschichten. Dies ist eine davon.
Die großen Ferien unter Tage mit körperlicher Arbeit bei Saunatemperaturen und ziemlicher Lautstärke zu verbringen, das klingt einigermaßen seltsam. Kommt aber vor. Jeden Sommer reisen gut und gerne 150 Menschen aus allen Richtungen in ein fränkisches Städtchen, um zwei Monate lang zusammenzuarbeiten, davon die meiste Zeit unter diesen Bedingungen. Aus freien Stücken. Und auch aus Hamburg.
Festspielorchester der Bayreuther Festspiele nennt sich dieses Bootcamp der künstlerischen Art. Es setzt sich zusammen aus Mitgliedern vieler deutscher und einiger europäischer Berufsorchester, darunter aus dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg und dem NDR Elbphilharmonie Orchester. Die Proben gehen schon im Frühsommer los, Wochen bevor sich die Kameras der Welt auf das Schaulaufen vor dem Festspielhaus richten. Dieses Jahr dauert die gemeinsame Zeit von der ersten Probe am 19. Juni bis zur letzten Vorstellung am 27. August mit Wagners „Tannhäuser“, inszeniert vom künftigen Intendanten der Staatsoper Hamburg Tobias Kratzer.
Festspielorchester: Warum Hamburger Musiker in den Sommerferien freiwillig arbeiten
Na klar gibt es Wagner. Und sonst gar nichts. Der Komponist hat das Festspielhaus 1872/73 nach seinen Vorstellungen bauen lassen. Ihm sind die Festspiele gewidmet, auf dem Spielplan steht traditionell eine Auswahl aus seinem schmalen, aber gewichtigen Œuvre. 2024 sind es der vierteilige „Ring des Nibelungen“ und vier weitere Werke.
Warum machen die das? Warum legen Musikerinnen und Musiker in der Spielzeitpause nicht ihr Instrument in den Schrank und sich selbst an den Strand, sondern begeben sich wieder in den Rhythmus der Orchesterdienste, schwitzen viele Stunden lang im Bayreuther Graben?
Das Bootcamp von Bayreuth: Warum legen die Musikerinnen und -musiker sich nicht an den Strand?
„Ich liebe es einfach, Wagner zu spielen“, sagt Sebastian Gaede, Cellist im NDR Elbphilharmonie Orchester. Diese Liebe scheint sich nicht abzunutzen. Gaede, Jahrgang 1967, ist seit 1995 dabei, dieses Jahr zum 25. Mal. Besonders freue er sich auf die Arbeit mit Simone Young, sagt er. Die frühere Hamburgische Generalmusikdirektorin und Intendantin der Staatsoper gibt ihr Debüt als Dirigentin in Bayreuth mit dem „Ring des Nibelungen“.
Dass Wagner bei der Gestaltung des Hauses und insbesondere der akustischen Verhältnisse kräftig mitgemischt hat, trägt bis heute zur Magie des Ortes bei. Der Orchestergraben ist – bis auf eine Nachahmung im Münchner Prinzregententheater – einzigartig: Er fällt vom Dirigentenpult an terrassenartig in Stufen abwärts, zum Saal hin ist er durch eine Blende verborgen. Dadurch sieht das Publikum zum einen nichts von Dirigent oder Dirigentin und Orchester. Und zum anderen verschmilzt der Klang auf seiner kurvenreichen Reise aus der Tiefe – erst nach oben, dann auf die Bühne und schließlich ins Auditorium – zu dem, was als samtener Bayreuther Mischklang weltberühmt geworden ist. Der Preis für dieses mystische Narkotikum: Im Graben herrschen tropische Hitze und drangvolle Enge. Abhilfe ist nicht absehbar; eine moderne Klimaanlage kann man in die fragile hölzerne Konstruktion nicht einbauen. Viele Orchestermitglieder spielen in T-Shirt und kurzer Hose. Sieht ja keiner.
„Dieses ist ein ganz besonderes Orchester“, sagt Bettina Rühl, die hauptberuflich im Philharmonischen Staatsorchester Hamburg bratscht. „Alle kennen die Stücke sehr gut. Wir entwickeln hier gemeinsam die Art, Wagner zu spielen, das ist Teil des Bayreuther Werkstattgedankens. Natürlich gibt es auch Traditionen, etwa den satten Klang. Ich merke, dass ich hier anders zulangen darf.“
Festspiele Bayreuth: Sebastian Gaede ist Cellist Nr. 263
Sie empfinde das Miteinander als wenig hierarchisch: „Wir bringen unsere Erfahrungen aus den Heimatorchestern ein. Jeder ist wichtig.“ In Bayreuth reihen sich auch manche, die daheim eine Solostelle haben, ins Tutti ein.
Sebastian Gaede ist Cellist Nr. 263 im Festspielorchester. Er hat nachgezählt, er führt nämlich die Cello-Statistik, und die reicht zurück bis ins Gründungsjahr 1876. Ihr ist etwa zu entnehmen, wie stark die Cellogruppe jeweils war, wer wie oft dabei war oder auch, dass es die diesjährige Cellogruppe auf insgesamt 168 Jahre Bayreuth-Erfahrung bringt. Solche Zahlen sind natürlich für Feinschmecker. Und zeugen von der Begeisterung für die Sache.
Ums Geldverdienen geht es Gaede nicht: „Ich verbringe hier meinen Jahresurlaub.“ Die Gage, sie wird in Tagessätzen bezahlt und richtet sich nach Tarifvertrag, gibt er vollständig aus für Unterkunft, Essengehen, Fitnessstudio und, nicht zu vergessen, die Reisen. Die Proben beginnen deutlich vor dem Ende der regulären Saison, zum einen oder anderen Dienst muss man also zwischendurch nach Hamburg zurück. „Das muss man gut planen und absprechen, dann klappt es auch“, ist Bettina Rühls Erfahrung.
Soziales wird großgeschrieben im Bayreuther Festspielorchester
Wer von den Bewerbern eingeladen wird, bestimmt die Festspielchefin Katharina Wagner höchstselbst. Viele Musikerinnen und Musiker kommen immer wieder und mieten sich in denselben Wohnungen ein. „Es ist wie ein Familientreffen“, sagt Sebastian Gaede. „Wir freuen uns jedes Jahr aufeinander.“ Überhaupt wird Soziales großgeschrieben. Die Stimmgruppen haben ihre Stammlokale. Die Bratschengruppe macht traditionell einen Bratschentag, zu dem auch die Angehörigen und Ehemaligen eingeladen werden. Die Fußballmannschaft FC Rheingoal (getauft nach Wagners „Rheingold“) kickt gegen die Mannschaft des Festspielchors oder gegen Vereine aus der Umgebung.
„Man ist hier in einer komplett anderen Welt. Bayreuth ist eine Kleinstadt“, sagt Bettina Rühl. „Das ist für mich ein großer Unterschied zum Hamburger Alltag.“ Nach einer Vormittagsprobe ist sie mit einer Kollegin etwa 16 Kilometer zum Trebgaster See geradelt, hat seltene Vögel und eine Blindschleiche gesehen und beim Baden zwischendurch kurz über Fingersätze gesprochen.
Am 25. Juli ist die erste Premiere, „Tristan und Isolde“. Bis dahin haben vielerorts die Schulferien begonnen, dann kommen die Familien. Wenn nur noch die Vorstellungen zu spielen sind, passen Dienst und Familienzeit zwanglos zusammen. „Gleich hinter dem Festspielhaus fangen die Wiesen und die Biergärten an. Freunde und Verwandte begleiten mich fast bis zum Orchestergraben“, erzählt Rühl.
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Und was ist mit der Anstrengung? Gaede zuckt die Achseln, als wäre das keine Kategorie. „Wenn es bei fünf Stunden ,Götterdämmerung‘ mal anstrengend wird, fühlt man sich hinterher angenehm müde. Wie nach dem Sport.“ Statt von körperlicher Belastung spricht er von Euphorie. Und Bettina Rühl hat beobachtet: „Man kommt unheimlich inspiriert ins Heimatorchester zurück. Es muss nicht das ganze Orchester in Bayreuth dabei sein. Wenn nur einige hier gewesen sind, bringen sie ganz viel Spielfreude mit.“