Hamburg. Als der letzte Ton verklungen ist, wirft Orri Pall Dyrason einen Teil seines Schlagzeugs um. Was aussieht, als hätte sich ein Ventil für aufgestaute Wut geöffnet, scheint in Wahrheit die Befreiung von allerhöchster Anspannung und Konzentration zu sein. Denn Dyrason gehört zu einem Kraftfeld, das sich Sigur Ros nennt. "Wir sind keine Band, wir sind Musik", sagt Jon Thor Birgisson, Sänger und Gitarrist des isländischen Ensembles.
Musik bedeutet bei Sigur Ros nicht Strophe und Refrain, sondern Klang. Birgisson streicht seine E-Gitarre mit einem Cellobogen, Dyrason fegt mit metallischen Besen über Trommeln und Becken, Kjartan Sveinsson läßt seine Keyboards wie eine Kirchenorgel ertönen und gibt dem Sound so eine räumliche Dimension. Ein Streichquartett aus vier quietschbunt angezogenen Islandmädchen sitzt mit den vier Musikern von Sigur Ros auf der Stadtparkbühne und erweitert das Spektrum um Geigen und Cello.
Diese langsamen an- und abschwellenden, an Ligeti oder Gorecki erinnernden Klangflächen, wecken Träume - von durchsichtigen Elfen und bedrohlichen Trollen, von sprudelnden Geysiren und kargen, einsamen Fjordlandschaften. Mit magischen Tönen schlagen sie das Auditorium in einen festen Bann. Es befindet sich in einem Spannungsfeld überraschender Wendungen von ganz laut bis ganz zart.
Manchmal ertönt nur ein helles Glöckchen wie von einem weit entfernten Kirchturm, andere Kompositionen enden in einem Orkan aus kreischenden Rückkopplungen und Dyrasons wuchtigem Getrommel.
Und dann ist da noch die Stimme von Jon Thor Birgisson. Ein hohes Falsett, das Worte in einer nicht verständlichen Sprache singt, sei es nun Isländisch oder Hopeländisch, wie Birgisson es selber einmal genannt hat. Wobei nicht verbürgt ist, ob er diesen Begriff wirklich ernst gemeint hat oder nur einen Journalisten auf den Arm nehmen wollte. In jedem Fall kommt es bei Sigur Ros' Texten nicht auf die Wortbedeutung, sondern einzig auf den Klang an.
Fast zwei Stunden lang lassen Sigur Ros im Stadtpark ihre sphärischen Klanglandschaften entstehen, dank einer Ausnahmegenehmigung dürfen sie bis 23 Uhr musizieren.
Bis auf die in blaues Licht getauchte Bühne ist es im Stadtparkrund nachtschwarz geworden. Die Zuhörer kehren aus ihren Träumen in die Realität zurück. Überschütten die Musiker mit Beifall. Und entschweben von einem magischen Ort in die Dunkelheit der Stadt.