Hitzacker. Eine Theatergruppe zum Auftakt in Hitzacker: Nico and the Navigators führten den Klassiker als Performance auf. Kann das gut gehen?
Die Entschleunigung auf dem Weg nach Hitzacker fängt gleich hinter Lüneburg an. Im Erixx, der Wendland-Bahn, die schon im Normalbetrieb eher gemächlich durchs Grüne zuckelt. Und die dann mal siebzig Minuten an einer Haltestelle zwangsparkt, wenn die Türen außer Betrieb sind. Klares Signal: mit großstädtischer Hektik kommt man hier nicht weit.
Die Fahrt zu den Sommerlichen Musiktagen ins malerische Elbstädtchen Hitzacker ist auch eine Reise in ein anderes Zeitgefühl. Das wird beim Festival in diesem Jahr besonders deutlich, für das Intendant Oliver Wille Franz Schubert ins Zentrum gerückt hat. Einen Komponisten, der, wie kaum ein anderer, die Uhr anhalten und sich und seine Hörerinnen und Hörer aus dem Alltag in ferne Sphären wegtragen konnte. Mit einer oft sehr bewegenden, manchmal herzzerreißenden Musik.
Verzahnung von Musik und Tanztheater
Wie sehr sie uns heute noch zu berühren vermag, demonstrierte schon das Eröffnungskonzert. In einer Aufführung der Berliner Theater-Gruppe Nico and the Navigators, die ausgewählten Liedern und Instrumentalstücken von Schubert ihre Botschaften ablauscht und zum Ausgangspunkt einer wunderbaren Performance macht.
„Inszeniertes Konzert“ nennt die künstlerische Leiterin Nicola Hümpel das Projekt. Aber es ist weit mehr als das. Das zweistündige Programm mit dem Titel „SILENT SONGS into the wild“ verzahnt Musik, Tanztheater, Pantomime und Videokunst zu einem multimedialen Assoziationszauber, zeitgleich auf der Bühne und auf einem großen Screen zu erleben. Die vier Sängerinnen und Sänger sind keine Solisten, sondern Teil eines flexiblen, dreizehnköpfigen Ensembles – mit Streichquartett, E-Gitarre, Klavier und Bewegungskünstlern – das den Impulsen von Schuberts Musik in wechselnden Besetzungen nachspürt.
Der Schmerz des entwurzelten Menschen
Die Unruhe aus „Gretchen am Spinnrade“, von Off-Beats im Klavier betont, ist als nervöses Wuseln choreografiert, es erinnert an das verschwitzte Gedränge von U-Bahn-Fahrten im Berufsverkehr. Im „Nachtstück“, einer leisen Sterbenshymne, sitzen ein Sänger und ein Tänzer mit geschlossenen Augen nebeneinander; ihre Hände tasten ins Ungewisse. Was erwartet uns nach dem Tod? Und im ersten Lied der „Winterreise“ umschlingen und verknäueln sich die Körper der Darstellerinnen und Darsteller zu einem Geflecht der Liebe, nicht nur zwischen Mann und Frau, drängend, lustvoll und verletzlich zugleich. Ein starkes Bild für die Sehnsucht nach Geborgenheit, die als Grundton in vielen Stücken von Schubert mitschwingt. Auch und gerade dort, wo sie den Verlust der Heimat thematisieren.
Der Schmerz des entwurzelten Menschen ist ein Leitmotiv, es gibt den 2017 uraufgeführten „Silent Songs“ – für Hitzacker neu überarbeitet – eine politische Dimension. Als das Lied „Meeresstille“ erklingt, mit zarten Flageoletts der Streicher, steht eine kleine Menschengruppe eng aneinandergedrängt, vielleicht wie auf einem Boot, eine Frau beginnt verzweifelt zu weinen. Ihre Tränen und ihr zum stummen Schrei verzerrter Mund sind auf dem Videoscreen ganz nah. Ein erschütternder Moment.
Reale Erfahrungen der Ensemblemitglieder
In der Intensität der Aufführung spiegeln sich reale Erfahrungen der Ensemblemitglieder, die aus acht Nationen stammen. Eine junge syrische Tänzerin, Lujain Mustafa, ist tatsächlich mit dem Schlauchboot und über sieben Länder geflohen, wie sie im zweiten Teil erzählt.
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Trotz der emotionalen Wucht wirkt die Performance niemals aufdringlich. Weil sie vielschichtig und empathisch inszeniert ist – die filmische Projektion macht das Geschehen noch intimer – und weil sie neben Schwere und Wehmut auch das Leichte kennt. Gerade nach der Pause blitzen immer wieder ironische Pointen auf, etwa als sich der Bariton Nikolay Borchev in Ballettposen versucht und die Tänzerin Yui Kawaguchi so ungelenk aushebelt, dass sie fast von der Bühne purzelt.
Schubert als digitale Realität
Was für ein Auftakt!
Einen ganz anderen Weg, das diesjährige Festivalmotto „Schubert.JETZT!“ umzusetzen, schlägt der „Schubert.SPACE“ ein: Ein Projekt, das die Besucherinnen und Besucher in die digitale Realität entführt. Ausgestattet mit VR-Brillen und Kopfhörern, durchstreift man dort in der Kunsthalle Oktogon zwanzig Minuten lang virtuelle Räume, sieht ein Klaviertrio spielen, begeht ein imaginäres Schubert-Museum und landet schließlich in einer Art Weltall.
Hitzacker lohnt sich immer wieder
Neben solchen Ausflügen und Performance-Kunst gibt es bei den Sommerlichen Musiktagen aber natürlich auch das klassische Konzertformat. Wegen der dauerhaft niedrigen Inzidenz im Landkreis Lüchow-Dannenberg sogar mit vergleichsweise wenigen Corona-Auflagen, die das Festival freiwillig um einige Sicherheitsvorkehrungen ergänzt, wie den Nachweis einer Genesung, eines negativen Tests oder der vollständigen Impfung.
Nach den guten Erfahrungen aus dem letzten Jahr, sind die Sitzreihen im Verdo-Saal bei vielen Veranstaltungen wie die Jahresringe eines Baums angeordnet. Welche Nähe in diesem Setting, mit den Interpreten in der Mitte, entstehen kann, zeigte der eindringliche Duoabend von Christian Tetzlaff und Lars Vogt. Dort erkundeten der Geiger und der Pianist eine Fülle an Farben und emotionalen Zuständen: von der Seelenschwärze und den gewaltsamen Härten bei Schostakowitsch über Kurtágs zerbrechliche Gesten bis zum innigen Gesang, aber auch dem Feuer in der a-Moll-Sonate von Schubert. Für solche kostbaren Begegnungen lohnt es sich immer wieder, nach Hitzacker zu fahren – und das Lebensreisetempo vorübergehend zu drosseln.