Hamburg. Literaturspaziergang, Fahrradkino, Konzerte an der Burg und am Hafen: eine Tour durch Hamburg in ungewöhnlichen Zeiten.

Vor gut zwei Wochen, bei der Vorstellung des Programms, waren es mehr als 700 Veranstaltungen. Zum Start am vorletzten Donnerstag dann schon mehr als 1000, am Ende der ersten Woche nun rund 1500. Das könnte man fast exponentielles Wachstum nennen und ist ein Indiz dafür, wie viel Vielfalt im ersten Kultursommer Hamburg steckt.

Der Kreativität sind allenfalls bei der Besucherzahl Grenzen gesetzt. Was das größte spartenübergreifende Festival, das die Hansestadt bisher erlebt hat und noch bis 16. August erleben wird, an einem Tag bietet, zeigt exemplarisch ein Besuch bei vier von etwa 50 Veranstaltungen allein am Donnerstag.

Strandkörbe vor der Elbphilharmonie

Etwa auf dem Vorplatz der Elbphilharmonie, auf dem es sich die Besucher des Konzerts von Luna and the Fathers in Strandkörben und auf Kunstrasenmatten bequem gemacht haben. Mit „Käse-Pickerein“, Bier oder Cappuccino vom Gastrowagen – und natürlich auf Abstand.

Luna and the Fathers auf dem Vorplatz der Elbphilharmonie.
Luna and the Fathers auf dem Vorplatz der Elbphilharmonie. © Holger True | Holger True

Eine Joggergruppe läuft vorbei, Möwen segeln elegant über das Areal, im Hafenbecken plätschert sanft das Wasser, und gegen die langsam abnehmenden Temperaturen helfen flauschige Decken. Ein tolles Ambiente, Tickets schon ab zehn Euro: Klar, dass alle Konzerte in der „Hope ’n’ Air“-Reihe längst ausverkauft sind. Stars gibt es nicht, aber Entdeckungen zu machen, und so eine Entdeckung ist die Hamburger Singer-Songwriterin Luna Desmond.

Mit warmer, überraschend tiefer Stimme singt die 21-Jährige Coverversionen (Bruce Springsteen, Joni Mitchell), vor allem aber betörende eigene Folkpop-Lieder. Die sind sehr häufig entstanden, „als ich mich mal wieder unglücklich verliebt hatte“, wie sie mit einem Augenzwinkern anmerkt, und haben erstaunliche Tiefe. Derzeit gibt es Luna and the Fathers nur auf Spotify und YouTube zu hören, eine CD ist in Vorbereitung. Wäre sie fertig, das begeisterte Publikum hätte sie der Band an diesem Abend aus den Händen gerissen.

Meisterhafte Literarisierung der Elbvororte

Einer gewissen Beliebtheit erfreuen sich auch bestimmte Postkarten aus Hamburgs Westen. Betextet sind sie mit der Hochleistungs-Prosa einer ganz Großen, weshalb ihre Schnitzeljagd-ähnliche Verteilung folgerichtig am Ende den inoffiziellen „Brigitte-Kronauer-Weg“ ergibt. In die Hamburger Topografie einverleibt hat diesen die Germanistin Monika Pauler: 92 Stationen mit Fundstücken und Miniaturen aus dem Werk einer Frau, die mit ihrer Literatur eigene Hamburgensien schuf.

Am 22. Juli, dem Todestag Kronauers (1940-2019), führt die Kronauer-Kennerin Pauler mehrere Gruppen durch Teile ihres poetischen Parcours: Jenischpark, Övelgönne, Botanischer Garten, alles dabei. Und der Hirschpark, wo sich nachmittags ein gutes kultiviertes Dutzend zur Kronauer-Andacht trifft. Herrlichstes Hamburg: Die Sonne verdrängt das manchmal auch Morbide, Boshafte in Kronauers Werk.

Brigitte Kronauers Grabstein auf dem Nienstedtener Friedhof.
Brigitte Kronauers Grabstein auf dem Nienstedtener Friedhof. © Thomas Andre | Thomas Andre

Monika Pauler liest die betreffenden Stellen in Kronauers Werk – wer hat die Elbvororte und ihre Hotspots je so meisterhaft literarisiert? – und geleitet die ihrerseits belesene Gefolgschaft in kurzweiligen anderthalb Stunden vom Park über Elbchaussee und Eichendorffstraße an Kronauers Wohnhaus vorbei bis zum Grab auf dem Nienstedtener Friedhof.

Zwischendurch bringt Pauler an Zäunen, Baumbefestigungen, Strauchzweigen oder Laternenmasten hin und wieder eine neue Postkarte an. Wenn sie nicht der Zerstörungswut zum Opfer fallen, sind sie nun mal prima Souvenirs.

Ein Hauch von Tour de France auf der Elbinsel Kaltehofe

Nicht der Literatur, sondern der Filmkunst gilt es indes auf dem Areal der Wasserkunst Elbinsel Kaltehofe. Das mobile Kino „Flexibles Flimmern“ von Holger Kraus zeigt schon seit mehr als 20 Jahren Leinwandperlen an den ungewöhnlichsten Adressen der Stadt, und da Kaltehofe als Radlerparadies gilt, sind Filme zum Thema Fahrrad und Wasser bis Sonntag das Motto der sieben Vorstellungen auf der Wiese zwischen den nicht mehr genutzten Flächen und Becken des Elbwasser-Filtrierwerks.

An diesem Abend läuft „Fahrraddiebe“, Vittorio De Sicas oscarprämierter Klassiker von 1948. Während Lamberto Maggiorani als Tagelöhner auf der Suche nach seinem Fahrrad durch Rom streift (und dem späteren Regie-Giganten Sergio Leone in einer Nebenrolle begegnet), machen es sich 130 Menschen vor der Leinwand gemütlich. Sie können auf Stühlen zwischen den mobilen Ständern der „Fahrradgarderobe“ oder auf mitgebrachten Hockern und Decken sitzen. Die entsprechenden Flächen – auch für größere Gruppen – sind mit Farbkreisen auf dem Rasen markiert. Gleich daneben kann man sich mit Getränken, Teigtaschen oder – bei Abendkühle - mit Heißgetränken versorgen.

Das Wetter stimmt, der Film ist ein anerkanntes Meisterwerk, und nicht wenige entdecken erst jetzt die Schönheit von Kaltehofe, einer perfekten Trainingsstrecke für Rennradfahrer. „Quäl dich!“, ruft Holger Kraus scherzend bei der Begrüßung des Publikums einem von ihnen zu, der gerade vorbeisaust. Ein Hauch von Tour de France in Hamburg.

Kultur auf der Burg Henneberg

Vom Süden in den Hamburger Norden: 15 Meter hoch auf einem Berg(chen), dennoch für manch alteingesessenen Poppenbütteler immer noch versteckt im verwunschenen Grün, steht die Burg Henneberg. Der Geheimtipp der hanseatischen Kulturszene hat dank einer angemieteten Open-Air-Bühne am „Schleusensee“, sprich Alsterlauf, jetzt mehr Außenwirkung. 35 teils ausverkaufte Veranstaltungen, auch für Kinder, hat Burgherr Helge J. Hager mithilfe des Künstleragenten Christian Thiel bis Mitte August zu bieten.

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Mit dem Cuarteto SolTango wurde eine gute Wahl getroffen. Alle 90 Sitzplätze sind verkauft, inklusive der originellen je zwei auf den Picknickdecken (15 Euro). Pianist Martin Klett freut sich, mit seinen drei Kollegen endlich wieder in seiner Heimatstadt spielen zu können; Das festivalerprobte Quartett hat mit Leonel Capitano noch einen leidenschaftlichen argentinischen Gastsänger dabei. Mit Tango-Musik der 1940er bis 1960er erwärmen die fünf das am Ende begeisterte Publikum.

Am Fuß der Burg Henneberg erklingt Tango-Musik und mehr. Foto: Andreas Laible / Funke Foto Services
Am Fuß der Burg Henneberg erklingt Tango-Musik und mehr. Foto: Andreas Laible / Funke Foto Services © Andreas Laible / FUNKE Foto Services | Andreas Laible

Nach zwei Zugaben ist kurz nach 22 Uhr Schluss - mehr geht nicht aus Rücksicht auf die Anwohner. Burgherr Hager, der vor der Corona mit seiner Ehefrau und der von beiden 2014 gegründeten Stiftung rund 500 Konzerte, Lesungen und Theateraufführungen im Rittersaal auf Spendenbasis veranstaltet hatte, weiß die Hilfe der Stadt zu schätzen. Er sagt indes auch: „Ich habe keine Ahnung, was nach dem Kultursommer passiert.“ Im 25 Quadratmeter großen Saal mit begehbarer Galerie dürfte nach derzeitiger Regelung nur ein Künstler vor 1,5 Zuschauern auftreten. Umso mehr gilt es, nicht nur in Poppenbüttel die Kultur im Freien zu entdecken.