Hamburg. „Himmel über Hamburg“ ist als Beitrag von Elbphilharmonie und Kampnagel eine Mogelpackung, überzeugt aber als Klangerlebnis.
Alphörner. Es gibt Musikinstrumente, die man mehr mit einem sommerlichen Vormittag im Stadtpark Eimsbüttel verbindet, aber sei es drum: Sonnabend um 11 Uhr packen vier Musiker ihre unhandlichen Instrumente auf der Wiese aus und beginnen, sich einzuspielen. Ein, zwei Takte, dann dröhnen Schlagerrhythmen aus einem benachbarten Schrebergarten herüber.
Was tun? Man könnte ein paar Dezibel lauter ins Horn blasen, aber dann dürfte der Kleingärtner seine Musik ebenfalls hochpegeln, das bringt nichts. Also werden die Alphörner wieder zusammengepackt und man zieht ein Stück weiter. Besser keinen Klangkrieg anfangen.
Höhepunkt ist ein Konzert auf den Hochhausdächern
Der Alphorn-Auftritt ist Teil des Projekts „Himmel über Hamburg“, einer Kooperation von Dresdner Sinfonikern, Elbphilharmonie und Kampnagel, zu deren Vorspiel Kostproben im Stadtraum zählen.
Der Höhepunkt ist ein Konzert auf den Hochhausdächern der Lenzsiedlung, aber wichtig ist auch das Drumherum, die Kurzauftritte verschiedener Musikergruppen im Unnapark, an der Apostelkirche, auf dem Else-Rauch-Platz. Und, wie gesagt, im Stadtpark.
„Himmel über Hamburg“: Alphornisten spielen Kurzkonzerte
Die vier Alphornisten haben endlich zu spielen begonnen, „Kein schöner Land“, „Der Berner“, der Triumphmarsch aus „Aida“, und nachdem sie zunächst alleine musizierten, bleiben nach und nach Spaziergänger stehen, ein Hundebesitzer hört zu, ein Vater tanzt mit seiner Tochter zum „Thalkirchdorfer Walzer“.
Das große Publikum ist das nicht, aber es ist interessiert. Enthornte Kühe würden sich nicht für Alphornmusik interessieren, erzählt Musiker Schorsch, aber wenn sie noch ihre Hörner hätten, blieben die Tiere stehen und hörten zu. Außerdem würden sie besser Milch geben. Was diese Anekdote über die Zuhörer im Stadtpark aussagt, verrät Schorsch nicht – es geht weiter, in einen Innenhof der Lenzsiedlung, wo ein zweites Kurzkonzert gespielt werden will.
Anwohner in Hamburg beschwerten sich
Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard hat hier schon zuvor einen Auftritt mitbekommen. Ein Anwohner habe sich beschwert, berichtet sie, von einem Balkon sei ein wütendes „Ruhe!“ erschallt. Worauf sich allerdings weitere Anwohner eingeschaltet und lautstark ihre Unterstützung für die Musik kundgetan hätten.
Die Lenzsiedlung gilt wie viele Hochhausviertel als sozialer Brennpunkt, aber augenscheinlich ist hier Interesse an Kultur vorhanden. Auch der Kartenverkauf für das Konzert am Abend spricht da eine deutliche Sprache: Von den 500 Tickets waren 150 für Anwohner reserviert – und die waren innerhalb weniger Stunden ausverkauft.
Industriekletterer als Autoritäten
Der Nachmittag steht im Zeichen der Technik: Der Schall muss zwischen den Musikern auf den Hochhausdächern und dem Publikum am Boden enorme Distanzen überwinden, der Soundcheck ist Feinarbeit.
Außerdem agieren Trompeter, Tubisten und Alphornbläser in schwindelerregenden Höhen und müssen gesichert sein – mit solchen Problemen versierte Industriekletterer sind hier die absoluten Autoritäten und haben die Künstler an Seilen fixiert, auf dass niemand über die Brüstung stürze. Gar nicht so einfach, zumal der Wind in dieser Höhe recht frisch bläst und immer droht, die Notenblätter fortzuwehen.
Konzert in Hamburg konnte pünktlich beginnen
Tatsächlich stürzt aber niemand in den Abgrund, das Konzert kann (mit leichten technischen Problemen) um 19 Uhr beginnen. Die Sitze auf dem Sportplatz Tiefenstaaken sind für kleines Geld ausverkauft, auch auf den benachbarten Wiesen hören Gäste zu, und die Balkone der Hochhäuser sind ebenfalls bevölkert. Zum Einstieg gibt es John Williams’ Olympische Fanfare von 1984, dann drei Stücke des Renaissancekomponisten Giovanni Gabrieli, schließlich die Komposition „Long Teng Hu Yue“ von Minxiong Li für chinesische Dà-Gu-Trommeln.
Eher leichter Stoff, der musikalisch vor allem auf die Überwältigungsästhetik von Bläsern und Trommeln setzt, szenisch aber einen starken Start markiert, weil die Musiker auf den Hausdächern den Effekt haben, dass die Musik den Stadtteil quasi umarmt – ein Raumklangerlebnis in der „größten Musikanlage Deutschlands“, wie es Sinfoniker-Intendant Markus Rindt formuliert.
Passanten werden Teil des Auftritts
Außerdem sorgt der zugängliche Einstieg dafür, dass das Publikum offen ist für das, was kommt: die Auftragskomposition „Himmel über …“ von Markus Lehmann-Horn, ein halbstündiges Werk, das deutlich fordernder aufgebaut ist. Über weite Strecken besteht die Kompostion aus fallenden Kadenzen, aus von insgesamt 16 Alphörnern erzeugten Drones, aus denen sich immer wieder kurze Melodien schälen, mal bedrohlich, mal überraschend lieblich.
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Dass das Publikum sich auf dieses Stück einlässt, ist auch ein Verdienst des Gesamtkonzepts „Himmel über Hamburg“, eines musikalischen Konzepts, das den Bewohnern der Lenzsiedlung sagt: „Ihr seid gemeint! Das ist schwerer Stoff, aber es geht hier um euch!“ Kurz vor Schluss sogar ganz konkret: Hier hat Lehmann-Horn am Nachmittag eine Gruppe Passanten verpflichtet, in Vuvuzuelas zu tröten und so zum Teil des Auftritts zu werden.
Beitrag zum Kultursommer ist eine Mogelpackung
Das Orchester hat das „Himmel über …“-Konzept schon einmal vergangenen September im Dresdner Plattenbau-Stadtteil Prohlis realisiert. Entsprechend ist es ein wenig eine Mogelpackung, wenn Kampnagel und Elbphilharmonie das Projekt als ihren Beitrag zum Hamburger Kultursommer bewerben – und Sinfoniker-Intendant Rindt betont auch, wie schön es sei, dass Hamburg sein Programm „eingekauft“ habe.
Und doch: Angesichts der Tatsache, wie klug die musikalische Idee mit dem Ort verknüpft wird, mit welchem Nachdruck die Musiker den Anwohnern darlegen, dass das Gezeigte für sie gedacht sei, kann man nicht anders als festzustellen, dass dieser „Himmel über Hamburg“ in die Lenzsiedlung gehört. Und nirgendwohin sonst.