Hamburg. Germanist Hans-Gerd Winter über den Hamburger Autor. Außerdem: Ein Gedicht zu Ehren Borcherts von Lyriker Mirko Bonné.
190 Mitglieder hat die in Hamburg ansässige Wolfgang-Borchert-Gesellschaft. Ihr Chef ist seit Langem der emeritierte Germanistik-Professor Hans-Gerd Winter. Was sagt er zu den Festtagen des Schriftstellers, zu seinem Nachruhm und seiner Aktualität?
Hamburger Abendblatt: Ist Wolfgang Borchert der berühmteste Frühvollendete der neueren deutschen Literatur?
Hans-Gerd Winter: Dass Wolfgang Borchert mit 26 Jahren am 20. November 1947 und damit einen Tag vor der Uraufführung von „Draußen vor der Tür“ in den Hamburgern Kammerspielen starb, verhalf ihm mit zum Erfolg und Anteilnahme versprechenden Image als junger Autor. Dabei sah Borchert sein Werk keinesfalls als „vollendet“ an: „In zwei Jahren wird das Zeug kein Mensch mehr lesen“, schreibt er im letzten Brief vier Tage vor seinem Tod an Ernst Rowohlt. Eher als „frühvollendet“ kann wohl Georg Büchner gelten, mit dessen „Woyzeck“ Borcherts „Draußen vor der Tür“ gern verglichen wird aufgrund der existenziellen Frage: Wer schützt uns davor, dass wir Mörder werden?
Warum müssen wir Borchert lesen?
Winter: Man muss Borchert nicht unbedingt lesen, aber man sollte ihn lesen. Lässt man sich auf seine Schreibweise ein, freut man sich an den gezielten Wortschöpfungen, Wiederholungen, Anlauten und an der rhythmischen Sprache und spürt, wie der Autor versucht, den Swing, der dem Lebensgefühl seiner Generation entsprach, schreibend nachzugestalten. Zugleich ist Borchert durch Krankheit und Todesdrohung gezwungen, sich mit seinen Erfahrungen in Diktatur, Krieg und Gefängnis auseinanderzusetzen. Vor allem seine Darstellung der Traumata von Tätern und Opfern bleibt dabei sehr aktuell. Man denke zum Beispiel an die aus Afghanistan jetzt abziehenden Bundeswehrsoldaten. Zur Identifikation lädt dabei Borcherts Blick auf den Einzelnen, den einfachen Soldaten, seine Ängste, falsche Euphorie und seine Schuldgefühle ein. Und die Erfahrung der Heimatlosigkeit des damaligen Kriegsheimkehrers findet sich heute ganz aktuell zum Beispiel bei vielen Flüchtlingen, die zu uns kommen.
Jenseits runder Geburtstage und Jubiläen sowie des Schulunterrichts – wie präsent erscheint er Ihnen heute?
Winter: Der sich schon abzeichnende Erfolg des Festivals „Hamburg liest Borchert“ zeigt, wie präsent Borchert in seiner Heimatstadt ist. Ein Beispiel: Unsere Lesung mit Musik „Lebe, liebe, leide und schreibe“ musste zwar aufgrund der Umstände gestreamt werden. Der Film wurde aber gleich zu Anfang an 400 Computern angesehen, die längst nicht nur in Hamburg standen. Die Borchert-Box in der Staatsbibliothek und die aktuelle Digitalisierung der Briefe und Handschriften werden Borchert über die Printmedien hinaus zusätzliche Leser verschaffen. Nach meiner Erfahrung sprechen gerade junge Leute auf Borcherts Texte an. Darüber hinaus gibt es an vielen Orten Leser, die sich für ihn einsetzen, aktuell zum Beispiel die Bürgerinitiative in Weimar, die 2021 nicht nur zahlreiche Veranstaltungen anregt, sondern auch die Benennung einer Straße nach ihm durchgesetzt hat, der dort seine erste Zwangs-Ausbildung zum Soldaten erfahren hatte.
Wie ertragreich ist der Borchert-Lobbyismus der Borchert-Gesellschaft?
Winter: Wir werden als Anreger, Unterstützer von Initiativen und Aufführungen im In- und Ausland angesprochen. Kontakte bestehen zu Theatern, Schulen und Wissenschaftlern – ganz abgesehen von den vielen interessierten Laien. Und wir arbeiten bei Lesungen, Ausstellungen und Konferenzen mit Veranstaltern vor Ort zusammen, um ein breites Publikum zu erreichen. Selbst wenn die Zahl der Mitglieder im In- und Ausland mit etwa 190 relativ gering ist, haben wir mit der relativ hohen Zahl an jungen Mitgliedern gegenüber vielen Autorengesellschaften einen Vorteil. Es gelingt uns, Borcherts Werk aktuell zu halten – von seiner eindeutigen Botschaft bis hin zur Vielstimmigkeit unterschiedlicher, einander widersprechender Anliegen und Aussagen.
Das Programm fürs Borchert-Festival in Hamburg
„Hamburg liest Borchert“ heißt es vom 17. bis 23. Mai – pandemiebedingt nur online. Das Literaturfest, veranstaltet von Institutionen von Brakula bis UKE, beginnt am Montag, 17.5. (18.30 Uhr) unter dem Motto „Ich bin der Nebel, der um die Laternen tanzt“. Zur Eröffnung mit Livestream aus den Kammerspielen wird auch Bürgermeister Peter Tschentscher erwartet, ebenso Schauspieler Charly Hübner, Autorinnen und Autoren, Musiker wie Stefan Gwildis. Abendblatt-Kulturchefin Maike Schiller moderiert (Tickets 8 Euro).
„Draußen, heute: ein interkultureller Blick“ ist ein Livestream aus dem Literaturhaus am 18.5. (19.30 Uhr, 5,-), Thema: Lebenswirklichkeiten von Exilautoren. „Dies kostbar kurze Leben“ ebenfalls am 18.5. (19.30 Uhr) ist eine Romanvorstellung von Frauke Volkland aus der Buchhandlung stories!, Catrin Striebeck liest, Eintritt frei, Teilnahme via Zoom. Die Geburtstagsfeier mit Literatur und Musik läuft am 20.5. (18 Uhr) als kostenloser Stream aus den Kammerspielen u. a. mit Kultursenator Carsten Brosda, Schauspielerin Ute Hannig und dem Duo Engelbach & Weinand (Info: www.hamburgliest.de). NDR Kultur sendet am 24.5. (20 Uhr) noch mal das Hörspiel „Draußen vor der Tür“ von 1947.
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Ausstellung: 100 Briefe zum 100. Geburtstag
Borchert bewegt – bis heute. Wie sehr der Dichter Menschen verschiedener Herkunft und Generationen inspiriert, soll vom 20. Mai, seinem 100. Geburtstag, bis Ende Juni an seinem Geburtshaus (Tarpenbekstraße 82) im Schaufenster von Antiquitätenhändler Carsten Brundert sichtbar werden. Die Geschichtswerkstatt Eppendorf hat 100 Briefe und Postkarten mit Zeichnungen, Gedichten und Zitaten von Jungen und Alten, Prominenten und Unbekannten gesammelt, Wünsche, Gedanken und Botschaften aus der Türkei, aus Rumänien, aus Hamburg (auch von Carsten Brosda).
Aus Istanbul grüßt Schauspieler Ilyas Özçakır einleitend mit dem Borchert-Zitat „Wir begegnen uns auf der Welt und sind Mensch mit Mensch“. Und Mathilda aus der 7. Klasse des Gymnasiums Eppendorf schreibt: „Lieber Wolfgang, jedes Mal, wenn ich durch unsere Schule laufe, bin ich stolz, dass auch du hier einmal zur Schule gegangen bist. Dein Gedicht ‚Hamburg‘ hat mich besonders berührt.“
Lesetipp: Borcherts Gesamtwerk
Das Gesamtwerk von Wolfgang Borchert erschien erstmals im Jahr 1949 und wurde seitdem immer wieder nachgedruckt. Es enthält Borcherts Gedichte, die von Peter Rühmkorf editierten Erzählungen, Essays, Rezensionen und natürlich den Text zu seinem Stück „Draußen vor der Tür“. Eine Zeittafel informiert über das kurze Leben Borcherts. Im Klappentext findet sich ein Zitat von Heinrich Böll: „Er war achtzehn, als der Krieg ausbrach, vierundzwanzig, als der Krieg zu Ende war. Krieg und Kerker hatten seine Gesundheit zerstört, das Übrige tat die Hungersnot der Nachkriegsjahre. Zwei Jahre nur blieben ihm zum Schreiben, und er schrieb wie jemand, der im Wettlauf mit dem Tode schreibt. Borchert hatte keine Zeit, und er wusste es.“
Aus Anlass des 100. Geburtstags des Schriftstellers ist das Buch in einer Jubiläumsausgabe (Rowohlt, 570 Seiten, 12 Euro) erschienen, die auch einen bislang unbekannten Brief an seinen Verleger Ernst Rowohlt enthält.
Gedicht zu Ehren des Hamburgers Wolfgang Borchert
Der Hamburger Lyriker Mirko Bonné (55) hat dem Abendblatt exklusiv ein Gedicht zu Ehren Borcherts zur Verfügung gestellt, das wir hier veröffentlichen. Bonné ist ein in Hamburg lebender Lyriker und Romancier.
Dem Werk Wolfgang Borcherts ist er eng verbunden. Am 11. Mai las er zur Eröffnung der gläsernen „Borchert-Box“ in der Staats- und Universitätsbibliothek aus dem Werk Borcherts.
Letzter Ausflug
An einem ganz weißen Tag, sechs Monate
nach Kriegsende, fuhr er mit dem Frühzug
noch mal nach Lüneburg zu einem Mädchen.
Die Leber tat jetzt weh. Er fühlte sich gelb.
Sie spazierten vom Bahnhof zum Kalkberg,
rasteten, beäugten sich, lachten, mochten
einander. Ewig langsam hinauf, von oben
zeigte Fritzi ihm Bachs Kirche, den Alten
Kran, die Ilmenau, er ihr sein Theater.
Im Zug zurück ein Spuk vergessener Bilder.
Er sah sich, stand zugleich auf der Bühne,
wollte das Land, Äcker und Krater, das Grau
von Bardowick bis Winsen gar nicht sehen.
Dann über die Elbe, und da war Hamburg,
und alle alten Zeilen fielen ihm wieder ein.
Die Schmerzen. Er kam sich rühreigelb vor,
zusammengesackt wie ein Luftschiff oder
die in Brand geschossene Linde einmal.
Er schlich durch kaputte Straßen, die Linie 9
fuhr bloß zweimal am Tag. Die Uhlenhorst,
wie vor den braunen Hunden. Winterhude,
ein Hungerfeld. Der Stadtpark abgeholzt,
und Alsterdorf halb eingeäschert. Gärten,
weggeweht vom Wind. Dann lehnte er da,
im finsteren Treppenhaus und war nicht, der
er hatte werden wollen, noch der er wurde.
Hörte Schiffe. Leuchtete, so gelb war er.