Neukirchen/Hamburg. Martin Grubinger spielt dreimal in der Hamburger Elbphilharmonie – und hat sich Gedanken zur Zukunft der Klassik-Tourneen gemacht.

Es sind (auch) die kleinen Dinge, die Martin Grubinger glücklich machen. „Ich muss Ihnen mal schnell was zeigen“, sagt er zu Beginn des Zoom-Interviews und hält strahlend ein Trikot des FC Bayern München in die Kamera. „Ist heute mit der Post gekommen, mein Sechzigstes!“ Doch der Österreicher ist nicht nur seit seinem neunten Lebensjahr glühender Fan des deutschen Rekordmeisters, er ist auch ein Weltstar am Schlagzeug und so ziemlich allen denkbaren Percussioninstrumenten.

Vor Corona ist er wie so viele seiner Kolleginnen und Kollegen ständig durch die ganze Welt von Konzertsaal zu Konzertsaal gejettet. Zum Neustart des Kulturlebens spricht er über gedankenschwere schlaflose Nächte, mangelnde Fitness, die Sehnsucht nach dem Publikum und die Hoffnung, dass der „Tournee-Tourismus“ in alter Form nicht wieder auflebt. Am Montag und Dienstag spielt Grubinger in der Elbphilharmonie.

Hamburger Abendblatt: Es sind nur noch wenige Tage bis zum ersten von drei Konzerten in der Elbphilharmonie. Setzt da so langsam das Lampenfieber ein?

Martin Grubinger: Das eigentlich nicht, aber: Ich habe seit 20 Jahren viele Kontakte nach Hamburg, bin mit dem NDR verbunden, spiele häufig beim SHMF, es ist über diese lange Zeit eine schöne Beziehung zum Publikum entstanden, doch jetzt ist plötzlich alles anders. Und ich stelle mir wie so mancher meiner Kollegen die Frage: Kann ich’s noch? Ist es noch wie vor Corona? Zugegeben, ich habe deshalb die ein oder andere schlaflose Nacht. Als Solisten sind wir normalerweise in einem Flow – wie ein Fußballer, der in einer englischen Woche mittwochs und samstags spielt. Dieser Flow, den eine Fußballmannschaft ja auch erst im Laufe der Saison erreicht und nicht schon direkt nach der Vorbereitungszeit im Sommer, der fehlt jetzt.

Sie waren vor Corona sehr aktiv, haben zahllose Konzerte im Jahr gespielt. Nach einer so langen Pause, gibt es da Probleme, wieder in den Rhythmus zu kommen? Hatten Sie sich zu Hause mit Ihrer Familie vielleicht sogar ganz gemütlich eingerichtet?

Grubinger: Ja, absolut. Ich habe einen zehnjährigen Sohn und in der Vergangenheit schon manchmal das Gefühl gehabt, durch all die Tourneen in den wunderbaren Jahren seines Aufwachsens einiges zu verpassen. Durch die Pandemie konnte ich ihn – von wenigen Konzerten im Sommer abgesehen – ein ganzes Jahr lang wirklich erleben. Meine Studenten in Salzburg waren in dieser Zeit sehr ungeduldig und wollten unbedingt wieder raus und spielen, aber ich habe diese Zeit eigentlich genossen, in der ich mal ein ganz anderes Leben führen konnte. Vielleicht würde es mancher Kollege nicht zugeben, aber es ist nicht leicht, aus diesem Lebensgefühl, das wir alle aufgesogen haben, wieder herauszukommen.

Sie haben den Jetset, die Flughäfen und Hotelzimmer also nicht vermisst?

Grubinger: Überhaupt nicht. Ich bin ein überzeugtes Landei. Was mich bei den Tourneen immer gestört hat, war der Lärm der Städte. Mich schreckt es, dass es dahin jetzt wieder zurückgeht, in die Hotels und Flughäfen. Andererseits: So ist unser Beruf eben.

Eine Krise, wie wir sie gerade erleben, birgt die Chance, Dinge grundsätzlich zu hinterfragen. Gibt es in Bezug auf das internationale Konzertgeschehen Änderungen, die Sie sich wünschen würden?

Grubinger: Ich mache mir damit vielleicht in der Branche keine Freunde, aber ich stehe dazu: Wir brauchen wieder mehr Regionalität. Der Tournee-Tourismus, der bedeutet, dass Orchester durch die ganze Welt fliegen, um in Hamburg oder Wien eine Mahler-Sinfonie zu spielen, ist nicht notwendig. Das NDR Elbphilharmonie Orchester kann dies doch in Hamburg tun, und die Wiener Philharmoniker machen das in ihrer Heimatstadt. Dafür müssen nicht jedes Mal 200 Menschen ins Flugzeug steigen. Ich kann mir vorstellen, dass das Publikum es akzeptiert, auf die großen Orchester aus Boston, Sydney, New York oder Paris zu verzichten, wenn es sich dafür mit den regionalen Orchestern und Musikern viel stärker als bisher verbunden fühlt. Auch wir Künstler sind gefragt: Wir sollten wesentlich mehr mit zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten arbeiten, die in unserem Umfeld leben, deren Werke uns umspielen und in die Zukunft weisen. Wir müssen sie viel stärker an uns heranlassen, als das bisher geschehen ist.

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Also wäre es für Sie in Ordnung, künftig nicht mehr in New York, Sydney oder Tokio aufzutreten?

Grubinger: Ja! Natürlich ist es schön, wenn die Musik, die man macht, weltweit Gehör findet, aber es gibt bestimmt auch einen Solisten in Sydney, der das Schlagzeugkonzert von Friedrich Cerha ganz toll spielen kann, also soll er es dort machen. Und ich spiele es dann in München, Hamburg und Salzburg. Das Ende des Tournee-Zirkus’ kann einen großen Gewinn an Lebensqualität bedeuten.

Das Schlagzeugspiel ist ja auch eine Ausdauerleistung und erfordert körperliches Training. War es schwer, sich in der Zeit der Lockdowns zum Üben zu motivieren? Haben Sie sich die Fitness erhalten können?

Grubinger: Leider nein. Auch da ist es wie beim Fußball: Ans Limit gehst du nur im Spiel. Irgendwann in dieser Corona-Zeit hatte ich vier Kilogramm mehr drauf, und als Schlagzeuger spürt man das natürlich. Aber ich merke, dass ich in den vergangenen Monaten wieder besser in Form gekommen bin, und das Konzert vor einigen Tagen in Wien lief schon gut. Jetzt geht es um den Feinschliff.

Sie haben in einem Interview gesagt, Konzerte seien wie eine Droge. Was war in den vergangenen Monaten Ihr Ersatzstoff?

Grubinger: Im Winter vor allem der Sport. Und ansonsten die Arbeit mit meinen Studenten, zu sehen, wie sie durch die ganz intensive und fast tägliche gemeinsame Arbeit ihren Zugang zum Instrument und zum Repertoire haben steigern können. Ich habe gemerkt, dass ich das, was ich sonst im Konzert erlebe – das Gefühl, etwas geschafft und ein Publikum glücklich gemacht zu haben – auch auf die Studenten übertragen kann. Zu sehen, wie ein Student innerlich leuchtet, wenn er ein Werk bewältigt, das er vor drei Monaten noch für nicht spielbar hielt, das macht mir einfach eine riesige Freude.

Gibt es die Sorge, dass das Publikum nicht zurückkommen könnte? Haben Sie Angst davor, nicht mehr gebraucht zu werden?

Grubinger: Angst eigentlich nicht. Es ist, wie es ist, sagt man bei uns in Österreich. Wenn der Saal nicht voll ist, dann gebe ich für die, die gekommen sind, dennoch alles. Und wenn die Leute irgendwann sagen, den Grubinger haben wir schon so oft gehört, jetzt reicht es, dann passt das für mich auch. Ich bin da nicht besonders eitel und muss nicht um jeden Preis geliebt werden. Außerdem ist meine Mission in gewisser Weise bereits erfüllt: Das Schlagzeug ist inzwischen als Soloinstrument etabliert, und es gibt Nachfolger, jüngere Schlagzeuger, die sich ein Publikum erarbeitet haben.

Sie rufen also nicht beim Konzertveranstalter an oder schauen in die Saalpläne, um zu sehen, wie der Vorverkauf läuft?

Grubinger: Nein. Aber ich merke natürlich, dass wir uns gerade in einer besonderen Zeit befinden, auch was das Publikum betrifft. Nicht alle wollen jetzt sofort in die Konzertsäle zurück, manche stört die Pflicht, am Platz eine Maske zu tragen, für andere ist die beginnende Fußball-Europameisterschaft eine echte Konkurrenzveranstaltung. Ich warte einfach mal ab, wie es läuft ...

Grundsätzlich stehen die Zeichen im Moment ja gut: Die Inzidenzzahlen fallen, das Kulturleben erwacht wieder. Worauf freuen sie sich jetzt am meisten?

Grubinger: Auf das Publikum, darauf, bei einem Pianissimo im Saal eine Stecknadel fallen hören zu können, auf die Ergriffenheit nach dem letzten Ton einer Bach-Chaconne. Wissen Sie, am Ende geht es immer darum, einen ganz besonderen Moment zu teilen.

Martin Grubinger & Friends Mo 14.6., 18.30 + 21.00, Di 15.6., 18.30, Elbphilharmonie, Großer Saal, Karten ab 26,50 unter proarte.de, noch mehr Martin Grubinger gibt es im „Erstklassisch“-Podcast unter abendblatt.de/podcast