Hamburg. Der Hamburger Autor erzählt in „Späte Kinder“ kompromisslos eine Familiengeschichte. Stärke und Antrieb des Romans sind die Dialoge.
Es ist klar gewesen, dass es irgendwann knallen muss. Energieabfuhr auf die brachiale Art: Ein paar Engländer, robuste Über-Land-Pedaleure auf Mallorca, werden beschimpft. Und einer von ihnen kassiert einen Faustschlag. Man darf wohl sagen, wie unzivilisiert das Verhalten dieses mittelalten Mannes ist. Niedrige Toleranzschwelle. Null Impulskontrolle. Es hat etwas Infantiles.
Thomas ist Journalist, freischaffend, kinderlos; was sein Liebesleben angeht, ein aktuell verblüffend unreifer Zeitgenosse. Die langjährige Lebensgefährtin verließ er, um mit einer halb so alten Frau anzubandeln. Eine Form der Bindungsunlust, vielleicht -unfähigkeit. Man stellt als Leser von Anselm Nefts neuem Roman unweigerlich im Psychologischen basierende Vermutungen an. Der Titel gibt einen Hinweis: „Späte Kinder“. Es sei verraten, dass der Rowdy-Ausfall während des Balearen-Trips noch der letztlich uninteressanteste Ausläufer des Sturms ist, der in Thomas tobt.
Anselm Neft, der 1973 in Bonn geborene und in Hamburg lebende Autor, ist nicht unfair zu seinen Figuren. Wäre er es, erschiene nichts plausibel oder entschuldbar. Mag man auch mit Thomas‘ Trotz, seiner auch mal ans Larmoyante grenzenden Wut fremdeln, am Ende sympathisiert man mit dem Mann.
„Späte Kinder“ Ehelicher Sex lenkt von Gedanken an den Tumor ab
Der ja in diesem Roman einer Familienaufstellung nicht die einzige Hauptfigur ist. Das zweite „späte Kind“ ist seine Zwillingsschwester Sophia. Sie wird von Neft, der bereits beim Romanvorgänger „Die bessere Geschichte“, seinem ersten Buch bei Rowohlt, als sensibler und detaillierter Erkunder der menschlichen Seele aufgefallen ist, so vielschichtig beschrieben wie ihr Bruder, von dem sie sich in manchem unterscheidet.
Sophia ist dem Tode geweiht. Nach einer Krebsdiagnose geben ihr die Ärzte nur noch ein paar Monate. Deshalb ist „Späte Kinder“ ein Roman über das Sterben, über Verluste, familiäre Prägungen und den Versuch, sich aus Verhaltensmustern zu befreien. Und ganz auf die Essenz der Vorgänge gebracht, die mit einer Biografie kommen, ist dies ein Buch auch über das Scheitern.
Der Roman, der grob in drei Teile geschieden ist und erzählökonomisch klug seine Themen zusammensetzt, beginnt mit Sophias Ausnahmezustand. Es ist noch nicht lange her, dass sie von ihrer schweren Erkrankung erfahren hat. Nun liegt sie im Bett, neben dem Gatten, sie denkt an ihre Kindheit („Sie fühlt sich leicht“) und dann an den Tod. Die sezierende Deutlichkeit, mit der ihre mentale Verfassung hier geschildert wird, lässt auch den schmählichen Status ihrer Ehe nicht außer Acht: Sex wird abgeleistet. Aber immerhin lenkt er sie von den Gedanken an ihren Tumor ab.
Wo sich Kindheit und Jugend abgespielt haben
Als promovierte Kunsthistorikerin hat Sophia ihre eigene berufliche Entfaltung hintangestellt und sich um die Aufzucht der Tochter gekümmert, während ihr Mann Marcel als Kunsthändler reüssiert. Später, in den bitteren Stunden ihrer Lebensbilanzierung, wird sie die von Männern gemachte Welt verteufeln. Der Mann hat ihr immerhin ein privilegiertes Leben in Harvestehude ermöglicht. Aber als Erzieher taugt er Sophias Meinung nach nicht. Und so sucht sie ihren Bruder als Co-Erziehungsberechtigten für die Zeit nach ihrem erwarteten Ableben zu gewinnen.
Um Thomas diese Aufgabe anzudienen und auch, um das Elternhaus abzuwickeln – der Tod der Mutter ist noch nicht lange her –, reist sie ins Rheinland. Dorthin, wo sich ihre Kindheit und Jugend abgespielt haben. Und die von Thomas. Dessen Ankunft in der abgelegten Welt, die mal ein Zuhause war, wird auch geschildert, wobei Anselm Nefts nüchtern-pointierte Formulierung („Er ist wirklich in keiner guten Verfassung“) Thomas betreffend allgemein programmatisch ist für das intensiv beleuchtete Personal dieses Romans.
Der Vater war ein Säufer, die Mutter eine Dulderin
Neben den beiden Geschwistern sind dies besonders die Eltern, die retrospektiv ihre Auftritte haben. Ihre mangelnden Fähigkeiten als Eltern, ihre aus den Erfahrungen des Krieges, den der deutlich ältere Vater als Soldat und die Mutter als kleines Kind erlebte, mündenden Traumata werden insbesondere von Thomas beklagt. Der Vater war ein schlagender Säufer, die Mutter eine Dulderin. Er, der wütende Thomas, ist der Ankläger, auch gegen das Nazi-Erbe. Sie, Sophia, die Kranke, ist die langsam Verwelkende, für die die irdischen Konflikte ohnehin bald perdu sein werden.
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„Späte Kinder“ ist ein Roman, dessen Stärke und Antrieb die Dialoge sind. Man könnte allerdings die Rollenspiele, mit denen die Geschwister ihre Gesprächstherapie ins Werk setzen, als nutzloses Manöver begreifen, den Frieden mit der Familienhölle zu machen. Wobei Erinnerung ohnehin als Konstrukt erscheint: Sophia und Thomas haben durchaus unterschiedliche Vergangenheiten abgespeichert. Sie seien einander eher Eltern als Bruder und Schwester gewesen, heißt es einmal über die geschwisterliche Einheit.
Anselm Nefts nicht kleine Kunst ist es, das klassische Sujet der Familie und der in ihr waltenden Kräfte Liebe, Hass, Missgunst, Verblendung, Fürsorge, Nähe und Distanz noch einmal kompromisslos neu zu erzählen. Ein gelungenes Erzählwerk ist „Späte Kinder“ deshalb, weil es den Figuren Raum zur Entwicklung gibt.
„Späte Kinder“ ruft auch Spott und Mitgefühl hervor
Die bloße Andockung an den Zeitgeist gönnt sich der Autor übrigens nicht. Ist Sophia wegen ihres Verharrens in veralteten Rollenbildern tatsächlich eine Unvollendete? Ein guter Roman wie dieser will diese Frage, so kommt es einem jedenfalls vor, nicht eindeutig beantworten. Aber eine Tendenz hat er durchaus.
Dass alte, weiße Männer einen schweren Stand haben, besonders, wenn sie harmlose Radfahrer verprügeln, ist dahingegen offensichtlich. Thomas‘ Machtlosigkeit gegen den Zeitgeist, seine versiegende Eloquenz angesichts der Tatsache, dass es allzu selbstbewussten Welterklärern wie ihm nun schwerer gemacht wird, ruft gleichzeitig milden Spott und Mitgefühl hervor. Als Leserin und Leser fühlt man so oder so mit den Figuren; auch das spricht für diesen Roman.
Vor allem jedoch ist „Späte Kinder“ eine späte Erzählung des deutschen Verhängnisses und ein Zeugnis der transgenerationellen Weitergabe problematischer Erfahrungen. Und Anselm Neft ist ein Autor, den man mehr denn je auf der Rechnung haben muss.
Anselm Neft stellt seinen neuen Roman „Späte Kinder“ am 3.2. im Literaturhaus vor. Auch im Stream ist der Beginn der Veranstaltung um 19.30 Uhr; literaturhaus-hamburg.de