Hamburg. Die Hamburger Band begeistert in der Barclaycard Arena 300 Fans – die hätten früher ins Molotow gepasst. Wie der Abend verlief.

Im Autoradio läuft „Living In A Ghosttown“ von den Rolling Stones. Genauso verlassen wie eine Geisterstadt präsentiert sich das große Areal zwischen Volksparkstadion und Barclaycard Arena. Fehlen nur noch die toten Dornbüsche, vom Wind über den Platz getrieben. Dann tauchen beim Eingang E3 doch noch Menschen auf. Das Verhältnis zwischen Ordnern und Sicherheitskräften und Konzertbesuchern ist in etwa ausgeglichen.

Dann beginnt der Kontrollen–Parcours. Vorkontrolle. „Ja, ich habe Innenplatz-Tickets.“ Erste Kontrolle des Impfpasses und der Besucherdaten-App. Zweite Kontrolle der Eintrittskarte und wieder der Besucherdaten-App. Dann durch den Scanner. Zum Glück piept er nicht. Taschenkontrolle. Rein in die Arena und nächste Kontrolle. Diesmal müssen die Tickets gezeigt werden. „Ja, sie sind hier richtig.“ Schließlich geleiten die Platzanweiserinnen jeden Fan zum Sitz und erläutern noch ein paar Regeln.

Maskenpflicht bei Konzert in Barclaycard Arena

Die Maske muss natürlich auf bleiben. „Aber sie dürfen aufstehen und tanzen, um ein bisschen Stimmung zu machen“, sagt die freundliche Frau. In der riesigen Halle verlieren sich etwa 300 von 700 erlaubten Fans. Molotow-Club-Kulisse in Hamburgs größter Halle. Aber dafür verläuft der Einlass recht zügig und dauerte etwa 15 Minuten. Wie lange würde das wohl bei voller Kapazität dauern, wenn 12.000 kommen?

Pünktlich um 20.30 Uhr betreten die vier Musiker von Selig die in die Mitte der Halle vorgezogene Bühne; und die Fans sind sofort da. Sie sind bereit, Stimmung zu machen und ihre Lieblingsband zu feiern. Die Arme fliegen gleich beim ersten Song „Schau schau“ hoch, auf den Plätzen hält es niemanden. Rock’n’Roll-Party heißt die Devise für die nächsten zwei Stunden. Die Textsicherheit ist groß, besonders die Songs aus den 90er-Jahren, als Seligs Karriere begann, werden mitgesungen. Die Euphorie nach der langen Konzertpause ist groß, die Lautstärke des Beifalls ist höher als man das bei nur ein paar Hundert Zuhörern erwarten würde.

Barclaycard-Arena  eigentlich zu groß für Selig

Auch Jan Plewka und seinen drei Mitstreitern ist anzumerken, wie viel Lust sie auf dieses Konzert haben. Nach dem ersten Song nutzt der Sänger ein erstes Wortspiel, was mit dem Bandnamen trefflich geht: „Wir sind Selig“, sagt er und verbindet so Begrüßung und Gefühlszustand. Selig gehört zwar zu den bekannten Hamburger Rockbands, doch Konzerte in einer 12.000-Halle sind doch ein ganzes Stück entfernt von Seligs Möglichkeiten. „Wir haben immer davon geträumt, mal in der Sporthalle zu spielen. Jetzt ist es die Barclaycard Arena geworden. Corona macht’s möglich“, erzählt Plewka und strahlt.

Wucht für so eine große Halle besitzt die Band allemal. Die tanzenden Fans sind Beweis genug für die Energie, die auf der Bühne freigesetzt wird. „Andere Bands haben Konfettikanonen und Schlauchboote, wir haben einen Gitarristen“, kann Plewka sich einen Seitenhieb auf die Kollegen von Deichkind nicht verkneifen. Christian Neander, Gründungsmitglied der Band, glänzt mit vielen Soli und ist das musikalische Zen­trum des Quartetts. Seligs Sound ist stark vom seinem Spiel geprägt.

Christian Neander beeindruckt mit Effektgeräten

Er beherrscht Riff-basierte Rocknummern, die an die 70er-Jahre erinnern, er benutzt ein Wah-Wah-Pedal und andere Effektgeräte und beamt die Band zurück in die Zeit psychedelischer Experimente, wie sie Ende der 60er-Jahre en vogue waren, was besonders schön bei „High“ zu erleben ist.

Neander kann aber auch vom Blues getränkte Melodien spielen oder seine Gitarren so lärmen lassen, wie das in den 90er-Jahren die amerikanischen Grunge-Bands taten. Auch Bassist Leo Schmidthals und Schlagzeuger Stephan „Stoppel“ Eggert musizieren seit drei Jahrzehnten zusammen mit Plewka und präsentieren sich als eingespieltes Team.

Hamburger Band nutzte Corona-Pause produktiv

Selig hat die Corona-Zwangspause für Studioarbeit genutzt und im März mit „Myriaden“ ein neues Album veröffentlicht. Der Titelsong gehört zum aktuellen Live-Repertoire, doch nur drei der aktuellen Songs finden sich auf der 18 Lieder langen Setliste beim Hamburger Konzert. Plewka hat dagegen ein paar ganz frühe Nummern wiederbelebt wie „Bruderlos“ oder „Kleine Schwester“.

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Auch „Sie hat geschrien“, die erste Sin­gle, knallt mit Verve aus den Lautsprecherboxen. Akustisch wird es im Zugabenteil bei „Ohne dich“, einer Ballade, die Neander und Plewka zu zweit beginnen, bevor Eggert und Schmidthals mit einsteigen. „Das ist unsere ,Purple Rain‘-Nummer“, kündigt der Sänger das Liebeslied an.

Hamburger Band fordert Fans zur Grünen-Wahl auf

In seinen Ansagen erzählt Plewka immer wieder von den Anfängen der Band, als man zum Beispiel in Neanders Wohnung die ersten Lieder in einer Dunkelkammer geschrieben habe. Auch aus seiner politischen Haltung macht er keinen Hehl. „Ihr seht mit euren Masken aus wie ein Saal voller Ärzte, die gleich die Erde gesundoperieren werden“, sagt er. Die Klimakrise bewegt Plewka besonders, deshalb fordert er seine Fans auf, bei der Bundestagswahl unbedingt die Grünen zu wählen.

„Sie hat geschrien“: Selig- Sänger Jan Plewka.
„Sie hat geschrien“: Selig- Sänger Jan Plewka. © Roland Magunia | Unbekannt

Die Wahl-PR wird von vielen im Saal offensichtlich geteilt, denn der Musiker erhält viel Beifall für sein Statement. „Wir werden uns wiedersehen“ singt das Quartett zu Ende des Zugabenteils, und es wäre ein sinnvoller Schluss gewesen. Doch das Publikum klatscht begeistert weiter und bekommt dann nach zwei Stunden mit „Regenbogenleicht“ noch eine sanfte Nummer mit auf den Heimweg.