Hamburg. Am Montagabend wird in Frankfurt die renommierte Literaturauszeichnung vergeben. Gesucht wird ein Nachfolger für Saša Stanišic.

Gefeiert wird in diesen Zeiten nicht wirklich, aber einen Gewinner des Deutschen Buchpreises wird es doch geben. Am Montagabend wird er in Frankfurt vergeben. Am Vorabend einer Buchmesse, die eigentlich keine ist. Eine Hallenausstellung wird es nicht geben und nur sehr vereinzelt Veranstaltungen.

Die weltgrößte Leistungsschau der Literatur findet wie so vieles derzeit vor allem im Internet statt. Dort kann man, das aber schon seit längerem, die Kür des „Roman des Jahres“ verfolgen. Sechs Titel stehen im Finale der mit insgesamt 37.500 Euro dotierten Renommierauszeichnung, von denen der Sieger 25.000 Euro bekommt. Wie stellen die Finalisten vor.

Thomas Hettche: „Herzfaden“ (Kiepenheuer  Witsch)

Ein „Roman der Augsburger Puppenkiste“, wie dieses Buch im Untertitel heißt? Und ob! Eine der überraschendsten Romanveröffentlichungen in diesem Jahr, eine hinreißende Hommage, ein sehr schöner Stoff. Besser war Hettche („NOX“, „Pfaueninsel“) nie: Er lässt ein Mädchen nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste durch einen Geheimaufgang auf den Dachboden steigen. Dort trifft es, geschrumpft auf deren Größe, all die berühmten Marionetten, die zur Kulturgeschichte der Bundesrepublik gehören. Auf Prinzessin Li Si, auf Jim Knopf, auf den Kasper, auf viele andere mehr.

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Und vor allem auf „Hatü“, auf Hannelore Oehmichen-Marschall, die vielen von diesen Puppen schnitzte. Hatü erzählt dem Mädchen die Geschichte ihres Theaters, sie erzählt von ihrem Vater, dem Schauspieler Walter Oehmichen, der während des Zweiten Weltkriegs, als er auf Fronturlaub war, ein kleines Theater für seine Töchter baute. In einer Bombennacht wird dieses zerstört, aber nach dem Krieg bauen es Oehmichen und „Hatü“ wieder auf. Es beginnt ein Triumphzug der kindlichen Fantasie. „Herzfaden“ ist eine doppelt märchenhafte Geschichte, klug arrangiert, versiert erzählt; und, das nebenbei, anspruchsvoll gestaltet ist das Buch auch. Wohl der Favorit auf den Sieg.

Deniz Ohde: „Streulicht“ (Suhrkamp)

Vom 1964 geborenen Hettche, der bereits zum drittenmal auf der Shortlist des Buchpreises steht, zu der 1988 geborenen Deniz Ohde. Ihr Debütroman „Streulicht“ wurde landauf, landab mit viel Lob bedacht. Fraglos ist diese Geschichte einer Außenseiterin, die als Tochter eines Deutschen und einer Türkin im Arbeitermilieu aufwächst und sich in den Klassenzimmern durchkämpfen muss, ebenfalls preisverdächtig. Die Ich-Erzählerin führt Leserin und Leser in ein klaustrophobisch anmutendes Elternhaus, dessen Prägungen die Heldin in ihrem Weg hemmen.

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„Streulicht“ taucht ein in eine Welt, in der es Chancengleichheit nicht gibt. In einer nüchternen Sprache, die gelegentliche Formulierungsschönheiten nicht scheut, erzählt der Roman von den blinden Flecken des Bildungssystems. Einem Kind, das im Dunkeldeutschland der brennenden Ausländerunterkünfte aufwächst, und seinen Eltern, die ihre eigenen Dämonen bekämpfen oder eben nicht. „Streulicht“ ist soziologisch, hochliterarisch, ist dicht gewebt, eine intensive Leseerfahrung, manchmal bitter, wütend, und doch triumphierend.

Bov Bjerg: „Serpentinen“ (Claassen)

Ist „Streulicht“ stellenweise recht trist, so wird Bov Bjergs düstere Trauma-Ballade „Serpentinen“ zum Dunkelschocker. Bjerg, dem mit „Auerhaus“ ein literarischer Jedermannsliebling gelang, erzählt in seinem durchweg überzeugenden Zweitling von einem Vater-Sohn-Trip auf die Schwäbische Alb, der einer mentalen Kindsentführung gleicht. Beiläufig erzählt „Serpentinen“ auch die Geschichte Nachkriegsdeutschlands, vor allem aber von den Gespenstern der persönlichen Vergangenheit, die den Erzähler heimsuchen.

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 Er entstammt auf väterlicher Linie eine Familie von Selbstmördern. Die transgenerationelle Erfahrung hat sich tief in ihn eingegraben – wird auch sein Sohn dieses bleischwere Erbe mit sich herumschleppen müssen? In einer schroffen Collage der Erlebnisse auf der Reise und der Erinnerungsfetzen eines geplagten Geistes bekommt n „Serpentinen“ ein Mann Konturen, der trotz oder gerade wegen seiner akademischen Karriere immer fremd im eigenen Leben blieb. Harter Stoff, atemlose Lektüre.

Anne Weber: „Annette, ein Heldinnenepos“ (Matthes  Seitz)

Unter den sechs Shortlistern sind immerhin vier Autorinnen. In der 15-jährigen Geschichte des Preises geht es geschlechtermäßig gerecht zu, acht Preisträger, sieben Preisträgerinnen. Wobei zuletzt eher Autoren ausgezeichnet wurden. Der Logik des Zeitgeists würde der Sieg der seit langem in Frankreich lebenden Erzählerin Anne Weber, die auch auf Französisch schreibt, ganz sicher entsprechen – gerade aufgrund ihres Themas. Das allerdings zunächst eher randständig erscheint: In diesem bewundernswert leichthändig geschriebenen Buch wird die Lebensgeschichte der Annette Beaumanoir erzählt. Diese stolze Dame wird bald 97 Jahre alt und ist im Nachbarland ein wichtige Zeitzeugin. Im Zweiten Weltkrieg gehörte sie zur Résistance, in den 1950er-Jahren unterstützte sie die Nationale Befreiungsfront der Algerier.

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Von der Heldin zur Schurkin also, so war die Logik der Öffentlichkeit. Beaumanoir war Ärztin und Mutter, und doch wurde sie zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt. Nach einem halben Jahr floh sie, lebte in Tunesien, arbeitete anschließend für die algerische Regierung. Beaumanoir stand ohne Rücksicht auf eigene Verluste für ihre Überzeugungen ein. Sie ist eine Heldin, die auch fehlt. Man kann das zeitgenössisch nennen. Webers Entscheidung, ein „Heldinnenepos“ mit dem herkömmlichen Satzbild der antiken Erzähldisziplin (aber es reimt sich nichts, gut so) zu erzählen, ist nie ironisch, aber augenzwinkernd. Für letzteres spricht auch der bewusst saloppe Plauderton, wie erfrischend dieser ist! Buchpreisgewinnerin Anne Weber? Wäre eine sympathische und keineswegs schlechte Entscheidung.

Christine Wunnicke: „Die Dame mit der bemalten Hand“ (Berenberg)

Wer sich einen kleinen Hamburgbezug des diesmal dezidiert unhamburgischen Buchpreises – im vergangenen Jahr gewann Local Hero Sasa Stanisic – konstruieren will, bitteschön: „Die Dame mit der bemalten Hand“ erscheint im Berenberg-Verlag zu Berlin. Verlags-Co-Gründer Heinrich von Berenberg-Gossler ist ein Spross der Bankiersdynastie. Berenberg-Autorin Christine Wunnicke stand zuletzt zwei Mal auf der Longlist. Jetzt hat sie es mit ihrer immer überraschenden Literatur aus der Geheimtipp-Nische ins Finale geschafft. Ihr neuer Stoff ist handlich (wie das meiste auf dieser Shortlist der eher kurzen Romane) und doch weltumspannend.

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Wunnicke erzählt vom „aus dem Bremischen“ stammenden Mathematiker und Forschungsreisenden Carsten Niebuhr (1733-1815), der auf einer kleinen indischen Insel strandet und dort auf einen persischen Astrolabienbauer und Astronomen. Ein Mann aus dem Abendland, einer aus dem Morgenland: Es reicht, diese in einen Dialog (der sich so nie zugetragen hat) zu verstricken, um hintersinnig komisch zu sein und etwas über vor-globalisierte Zeiten zu erzählen. Feines Büchlein, das höchstwahrscheinlich nicht gewinnen wird – historische Romane sind beim Buchpreis eher etwas für die thematische Abrundung.

 Dorothee Elmiger: „Aus der Zuckerfabrik“ (Hanser)

Das Feld der Literatur wird reichhaltig bestellt, in jedem Jahr und also auch in einem pandemischen. Zur Ernte literarischer Früchte gehören auch Romane, die eines zunächst einmal gar nicht tun: erzählen. Der Text der Schweizerin Dorothee Elmiger ist sicher der anspruchsvollste auf der diesjährigen Shortlist, mit dem die Jury dem experimentellen Schreiben seinen Platz einräumt. „Aus der Zuckerfabrik“ ist ein Nebeneinander an Eindrücken, Erinnerungen, Lektüreerkenntnissen, verbindet in einer Collage von kurzen Stückchen den Arzt Binswanger mit dem Schriftsteller Roth, um Max Frisch und immer wieder ums Essen.

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Als sei der Hunger nach Literatur ursächlich für den leiblichen Appetit. Intertextuell auf der einfachsten Ebene – dass hier eine liest und diese Texte in Verbindung miteinander setzt – wird hier einiges geboten. Aber den stetes abwesenden geliebten C. würde man doch gern kennenlernen. Einfach nur, damit hier das Leben zwischendurch auch mal plastisch wird, wo doch der, nun ja, Erzählerin jeder Erzählstandpunkt mit einem Zentrum fragwürdig ist.