Hamburg. Drei Schulklasse sahen ein provokantes Tanztheaterstück. Manches beeindruckte die Schülerinnen und Schüler, aber es gab auch Kritik.
„Respekt für die Darsteller!“, meint Nayendi. „50 Minuten lang konzentriert zu sein und sich so auf ein Stück einzulassen, das ist sehr stark!“ Der Zwölfjährige hat gerade mit seiner Klasse von der Schule auf der Veddel „Esther“ von Reut Shemesh auf Kampnagel gesehen, ein provokantes, lautes Tanzstück, das sich mit der Frage nach Uniformierungen auseinandersetzt. Shemesh geht die Schüler ziemlich heftig an: Es wird gebrüllt, Nacktheit kommt vor, die Musik ist laut, zwischendurch wird auch ins Publikum gespielt. Das kommt nicht überall gut an. „Was ich nicht so toll fand, war, dass die alle so frei waren“, so Nayendi. „Also – nackt.“
„Esther“ auf Kampnagel: Die Nacktheit war den Zwölfjährigen zu viel
Einmal trägt eine Tänzerin einen hautfarbenen Bodysuit, auf dem Brustwarzen und Schambehaarung angedeutet sind. Dass dem Publikum diese Darstellung zuwider ist, merkt man schon während der Aufführung, es entsteht Unruhe im Publikum, ein Mädchen im Hidschab hält sich entsetzt die Augen zu. „Ich fand die Haare in der Körpermitte unangenehm“, meint Cenk Ali, ebenfalls zwölf Jahre. „Und dann gab es eine Stelle, als ein Mann und eine Frau auf dem Boden knieten und twerkten, mit dem Po wackelten. Das gefiel mir auch nicht.“ Auch eine stark sexualisierte Szene findet Nayendi fragwürdig: „Ein Mann liegt da auf dem Boden, und eine Frau setzt sich auf ihn. Das ist eklig.“
Bemerkenswert allerdings, wie klar die beiden Schüler formulieren können, was ihnen an dem Stück zu viel ist. Und auch, dass sie für sich etwas aus dem Gesehenen mitnehmen können. Zum Beispiel, dass das Thema „Uniform“ etwas ist, das auch etwas mit ihrem konkreten Leben zu tun hat: „Bei Hochzeiten und bei Geburtstagen muss ich eine Hose anziehen, über die meine Mutter sagt, dass das schön aussieht“, meint Cenk Ali. Ob ihm die Hose gefällt oder nicht, ist egal – und das hat dann eben auch etwas mit Uniformierung zu tun, mit unfreiwillig getragener Kleidung. Dass Reut Shemeshs Stück es schafft, jungen Menschen einen allgemeingültigen Tanz so zu zeigen, dass die Jugendlichen das auf den eigenen Alltag anwenden können, das beweist eben auch, wie klug gebaut diese Choreografie ist, jenseits der Provokation.
Beim folgenden Gespräch mit den Künstlern sind alle interessiert am Stück
„Esther“ ist entstanden im Rahmen des kürzlich mit dem Deutschen Tanzpreis ausgezeichneten Netzwerks „Explore Dance“, das Tanzstücke für ein junges Publikum produziert. Entsprechend besteht das Kampnagel-Publikum aus drei Schulklassen, zwei aus Harburg, eine von der Veddel. Nayendi und Cenk Ali sind mit die jüngsten Anwesenden, die meisten sind älter und teilweise auch starrer in ihrer Haltung zum Gesehenen, sie lassen sich leichter provozieren. „Dass die da in Unterhose zu sehen sind, finde ich nicht schön“, meint ein Schüler, „wenn laut geschrien wird, dann ist das gruselig“, eine andere. Zwischendurch ist Unruhe unter den Zuschauern zu spüren, nichtsdestotrotz: Beim folgenden Gespräch mit den Künstlern sind alle interessiert am Stück und stellen so aufmerksame wie interessierte Fragen. Auch wenn es Widerspruch gibt. „Eine Tänzerin ist an einer Stelle direkt zu mir gekommen! Ich habe mich total erschrocken!“, beschwert sich eine Schülerin. Und darauf ihr Mitschüler: „Ist doch normal, wenn man sich in die erste Reihe setzt!“
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Aber es gibt auch Fragen, die über das konkrete Stück hinausgehen. Was er für eine Religion habe, wird Tänzer Enis Turan gefragt, seine Antwort „Ich bin Muslim, aber ich sehe das nicht so streng“, wird wohlwollend aufgenommen. Als dann aber ein junges Mädchen fragt, ob er eine Freundin habe, irritiert sein „Ich lebe in einer polyamourösen Beziehung mit einem Mann und einer Frau“ erst mal kurz. Aber Irritation ist eben auch ein Anlass für weitere Fragen: „Ist das nicht kompliziert?“, traut sich ein Schüler. Und wenn Theater Jugendliche dazu bringt, solch interessierte Fragen zu stellen, dann hat das Netzwerk „Explore Dance“ seine Aufgabe, die Jugend zu erreichen, schon mustergültig erfüllt.
„Esther“wieder am 1. Juni, 19 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20, Tickets unter www.k3-hamburg.de