Hamburg. Das Stück „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“ am Jungen Schauspielhaus ist bedrängend aktuell.

„Stellt euch einen Zoo vor“, „einen Zoo vor vielen Jahren“, „einen Schwarz-Weiß-Foto-Zoo“, sagt das vierköpfige Ensemble abwechselnd. Da ist noch gar nicht so klar, mit welcher Art von Theater man es hier zu tun hat. Vorstellungskraft ist also gefragt, soviel ist klar. Man traut Alexander Riemenschneider zu, diese anfängliche szenische Leere alsbald mit Inhalt zu füllen. Der Regisseur liefert seit Jahren bewährte Qualität am Jungen Schauspielhaus ab. Und er erweist sich als der Richtige für die Premiere von Jens Raschkes „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“.

Die minimalistisch gehaltene Bühne von David Hohmann hat etwas beabsichtigt Unfertiges. Auf zwei fahrbaren Gestellen montiert das Ensemble einen riesigen weißen Bilderrahmen zusammen. Einige Plastikstühle stehen herum. Paletten türmen sich auf. Die Spielenden geben ab und zu Tierlaute von sich oder gestikulieren, tragen aber keine Tierkostüme, sondern Alltagskleidung (Kostüme: Lili Wanner), was dem Ganzen eine gewisse Ernsthaftigkeit verleiht.

„Was das Nashorn sah“ im Schauspielhaus: „Die Gestreiften“ und „Die Gestiefelten“

Denn der Zoo, um den es hier geht, ist nicht wie alle anderen. Seine Lage ist bemerkenswert. Um ihn herum leben „Die Gestreiften“, also Menschen in Streifenanzügen in brüchigen Baracken. Und mitten unter ihnen gibt es „Die Gestiefelten“, gelackte Stiefelträger in Uniformen. Die wohnen in schönen Häusern. Ein Zaun mit Stacheldraht trennt Zoo und Menschen – soll aber vor allem wohl die Menschen abhalten.

Eines Tages findet ein aufgeregtes Murmeltiermädchen (Severin Mauchle) im Zoo ein verstorbenes Nashorn aus dem fernen Bengalen. Der Anführer der Tiere, Papa Pavian (Alicja Rosinski), erklärt den Tieren, dass das Nashorn sich – offenbar ungefragt – zum Geschehen jenseits des Zaunes geäußert habe. Papa Pavian entpuppt sich als Opportunist, der lieber wegschaut, als Fragen zu stellen, warum auch bei warmem Wetter der Schornstein raucht, es so merkwürdig riecht oder keine Vögel fliegen. Das wiederum sind Dinge, die dem baldigen Neuzugang, einem grüblerischen Bären (Hermann Book), sehr wohl auffallen, seinen Forscherdrang aktivieren. Und schon bald beginnt auch er, unangenehme Fragen zu stellen.

Theaterstück „Was das Nashorn sah“: Neben Buchenwald wurde tatsächlich ein Zoo gebaut

Der junge Autor Jens Raschke hat aus dem Umstand, dass neben dem Konzentrationslager Buchenwald im Jahr 1938 tatsächlich ein Zoo für KZ-Aufseher und ihre Familien gebaut wurde, eine eindringliche Parabel über Unmenschlichkeit für ein junges Publikum ab elf Jahren verfasst. Sie erzählt von denen, die nicht anders können, als sich einzumischen und ihre Stimme zu erheben – und von denen, die aus Angst oder Ignoranz lieber nicht so genau hinsehen und sich in ihrer Komfortzone der Verdrängung behaglich eingerichtet haben.

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Der Bär wird die Initiative ergreifen – und die Prinzipien von Widerstand gegenüber dem Mitläufertum werden für das Publikum exemplarisch erfahrbar. Die Inszenierung ist dabei sehr konsequent auf die Erzählung und die Herausforderung der eigenen Fantasie bedacht. Sie verzichtet auf große Bilder und Effekte. Statt gesungener Lieder gibt es nur ein paar Takte elektronische Musik.

Das Stück des Jungen Schauspielhauses handelt vom Holocaust.
Das Stück des Jungen Schauspielhauses handelt vom Holocaust. © Sinje Hasheider | SINJE HASHEIDER

Riemenschneider ringt nicht um Leichtigkeit, beschönigt nichts, verniedlicht nichts, auch wenn die Inszenierung damit mitunter etwas statisch wirkt. Das Ensemble lädt den Text mit großer Spielgenauigkeit auf. In einer Szene zwischen Herr und Frau Mufflon glänzen zudem Christine Ochsenhofer und Hermann Book mit unvergleichlich feinem Humor, der dann doch ganz wohltuend wirkt.

„Was das Nashorn sah“ im Schauspielhaus: eine Parabel über den Holocaust

Ein wenig wirkt das Stück wie eine kindgerechte Fabel-Adaption des aktuellen Filmerfolges „The Zone of Interest“ von Jonathan Glazer. Es thematisiert ebenfalls die unmittelbare Nähe einer vermeintlichen Normalität und heilen Welt zur absoluten Unmenschlichkeit der NS-Gräuel.

Denn die sind der Elefant im Raum, der jedoch zu keiner Zeit beim Namen genannt wird. Jens Raschke erzählt von der Historie und den Verbrechen der Nationalsozialisten – und schlägt insgeheim natürlich eine Brücke zur Gegenwart mit ihren Gefährdungen der Demokratie durch Nationalismus, aber auch zur Abschottung Europas. Und ohne allzu viel spoilern zu wollen, auch in „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“ gibt es am Ende szenisch einen Moment der direkten Anbindung an die Geschichte und die Gegenwart. Wenn der lange leere, nur mit Fantasie und Narration ausgefüllte Bilderrahmen doch noch eine Funktion als Leinwand für sehr ausgewählte Projektionen erhält.

Autor und Regisseur kreieren ein Gefühl der Dringlichkeit für den Gedanken, dass es in der Gegenwart mehr denn je darauf ankommt, derlei Gräuel-Taten zu verhindern. Auch in dieser Hinsicht dürfte es das Stück der Stunde sein. Unbedingt sehenswert.

„Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“ weitere Vorstellungen 16.4., 10.30 Uhr, 17.4., 10.30 Uhr, 20.4., 16 Uhr, 3.5., 10.30 Uhr, 4.5., 16 Uhr, 4.6., 10.30 Uhr, 5.6., 10.30 Uhr, 6.6., 18 Uhr, Junges Schauspielhaus, Wiesendamm 28, Karten unter T. 24 87 13; www.junges.schauspielhaus.de