Hamburg. Wenig Fingerspitzengefühl: Muss man dem Konzert eines Dirigenten, dem Übergriffe vorgeworfen wurden, den Titel „Liebesschranken“ geben?

Edgar Moreau ist ein toller Cellist und ein ganz feiner Musiker. Der junge Franzose streicht sein Instrument so, dass es auf der Bühne der Laeiszhalle zu atmen und zu singen scheint. Etwa im Adagio aus Haydns C-Dur-Konzert. Dort belebt Moreau gleich den ersten, lang gehaltenen Ton, indem er ihn etwas anvibriert, anschließend verschlankt und dann wieder aufblühen lässt. Herrlich. Er gibt jeder Phrase Gestalt und Richtung. Ob in lyrischen Momenten oder virtuosen Passagen. Die Sechzehntelnoten im Finale setzt er mit fliegenden Fingern, sie wirken spritzig, wie kleine Fontänen der Spielfreude. Ein Genuss.

Die Symphoniker Hamburg begleiten unter Leitung von Charles Dutoit aufmerksam, aber mit etwas massigerem Klang, als er im Repertoire der Wiener Klassik heute üblich ist. Und trotzdem, eine mitreißende Aufführung, die Edgar Moreau noch mit einer Sarabande von Bach als Zugabe krönt: innig, sensibel, anrührend.

Charles Dutoit in der Laeiszhalle: Ein Unbehagen bleibt

Über ihn lässt sich nur das Beste sagen. Ein Satz, den man so über Charles Dutoit eher nicht formulieren würde. Im Zuge der MeToo-Enthüllungen haben ihm Frauen aus Kanada, Europa und den USA sexuelle Übergriffe vorgeworfen, die sich in den Jahren 1985 bis 2010 ereignet haben sollen.

Dutoit hat diese Vorwürfe vehement zurückgewiesen, sie haben auch nie juristische Konsequenzen gehabt, insofern gilt natürlich die Unschuldsvermutung. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass eine interne Ermittlung des Philadelphia Orchestra die Vorwürfe als glaubhaft dargestellt hat – und dass namhafte Orchester in den USA die Zusammenarbeit mit Dutoit beendet haben.

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Deshalb mischt sich schon ein Unbehagen in den Gesamteindruck. Wie mag es sich für die mutmaßlichen Opfer anfühlen, ihn umjubelt auf dem Podium zu wissen? Die Entscheidung, das Programm unter seiner Leitung ausgerechnet „Liebesschranken“ zu betiteln, wird jedenfalls nicht als Meisterleistung in Sachen Fingerspitzengefühl in Erinnerung bleiben.

Charles Dutoit und Edgar Moreau: künstlerisch betrachtet ein beeindruckender Abend

Rein künstlerisch betrachtet ist das, was Dutoit macht und kann, immer noch beeindruckend, gerade im romantischen Repertoire. Mit wohldosierten Gesten formt er einen sämigen, satten Klang. In Faurés Pelléas et Melisande-Suite und, noch dichter und fesselnder, in der fünften Sinfonie von Tschaikowsky.

Der erfahrene Dirigent, der sehr viel jünger wirkt als ein 87-Jähriger, kostet die dunklen Farben und die Wehmut der Musik mit den sehr gut aufgelegten Symphonikern aus (hinreißend: das Hornsolo im Andante), führt das Orchester aber auch energisch in die Steigerungswellen, die romantische Glut und den abschließenden Triumphmarsch, der selbst im vierfachen Forte nie gewaltsam klingt.