Hamburg. Düster endet Karin Beiers gewaltige Theaterserie. Für die Zivilisation besteht keine Hoffnung – für derart relevantes Theater schon.
Die Kuh ist nur noch ein Gerippe. Wie ein abgenagtes Mahnmal liegt sie diesmal irgendwo im Bühnenhintergrund, eine ferne Erinnerung an den Beginn dieser Saga, die unterwegs so viele ins Verderben gestürzt hat. Zu Tode gehetzt worden war die Kuh bereits im Prolog der fulminanten Theaterserie „Anthropolis“. Und dies ist nach fünf Episoden am Deutschen Schauspielhaus, allesamt von der Intendantin Karin Beier inszeniert, nun also das Ende. Alle zwei Wochen hatte es eine Premiere gegeben, griechische Mythologie als Blockbusterstoff. Jetzt ist das Staffelfinale erreicht: „Antigone“. Es ist das „schlimmste Ende“, wie sich herausstellt. Der endgültige Untergang.
Wo einst das Rind zusammengebrochen war, das Bühnenbildner Johannes Schütz fortan in keiner Inszenierung zu drapieren vergaß, war die Stadt Theben gegründet worden. Kann man sich vielleicht für die Zukunft merken (oder für die Gegenwart): Eine Zivilisation auf den Gewaltakt gegen ein Tier zu begründen – keine so gute Idee.
„Antigone“ am Schauspielhaus: Der Wahnsinn ist hier längst eingezogen
Die „Chronik dieser Familie“, der Nachkommen des Theben-Gründers Kadmos, des Ödipus und seiner Frau und Mutter Iokaste, ist eben „kein Ruhmesblatt“, wie deren Töchter Ismene und Antigone feststellen müssen. Ihre Geschichte ist es, die Karin Beier mit alten Texten von Sophokles und neuen von Roland Schimmelpfennig im letzten Teil erzählt.
Der Wahnsinn ist da längst eingezogen. Lilith Stangenberg, in der Titelrolle zu Gast am Schauspielhaus, hockt auf dem über und über mit Kreide bedeckten Bühnenboden. Und ist schon bald selbst kreidebleich. Vielleicht ist es die Asche der Vorfahren, mit der sie leben muss, die in alle Poren kriecht, nach einer langen Serie von Gewalt und Hass und brutalem Machtstreben. Gerade erst haben sich ihre Brüder Eteokles und Polyneikes in der Entscheidungsschlacht um die Stadt gegenseitig umgebracht. Nun soll nach dem Willen des neuen Herrschers Kreon nur derjenige bestattet werden, der die Stadt verteidigte. Die Leiche des Angreifers wird den Geiern und Hunden überlassen.
„Antigone“-Premiere: Ernst Stötzner zeigt seinen Kreon als Dogmatiker der Vernunft
Antigone aber begräbt den verstoßenen Bruder trotzdem, damit er ins Totenreich einziehen kann. „Im Tod sind alle gleich“, verteidigt sie ihre Tat gegenüber dem Onkel. Doch wer sich dessen Regeln widersetzt, wird selbst mit dem Tod bestraft. Kein Verzeihen, kein Nachgeben. Ernst Stötzner zeigt seinen Kreon als Dogmatiker der Vernunft, in der grausamen Unerbittlichkeit desjenigen, der das Recht zwar auf seiner Seite hat. Aber trotzdem alles verliert.
Und wieder, so war es schon in den vergangenen Folgen, insbesondere aber bei „Iokaste“, lodern die Sätze vor brennender Aktualität. „Gewalt zeugt Rache und Rache zeugt Gewalt“, heißt es gleich mehrfach. Aber so sind sie nun einmal, die Menschen: schmieren Leberwurstbrote, fummeln Fäden in winzige Nadelöhre und rotten sich gegenseitig aus. Nicht nur den Seher Teiresias, dem Schimmelpfennig diese Beobachtung in den Mund legt, befremdet das vollkommen selbstverständliche Nebeneinander dieser Vorgänge.
„Antigone“: Schonungslose Körperlichkeit und absolute Verausgabung
Von Beginn an ist Lilith Stangenberg das verrückte Kind, ist unerreichbar für die verzweifelte Schwester Ismene (Josefine Israel). Sie deklamiert, schreit („Fick dich!“) und schwelgt geradezu in ihrem Schmerz. Das ist einerseits unbedingt beeindruckend in der schonungslosen Körperlichkeit und der absoluten Verausgabung, lässt einen andererseits seltsam unberührt. Vielleicht, weil es so äußerlich bleibt, Theater-Theater, die aufgerissenen Augen, die schreitende Todesbraut im Purpurumhang, der dramatisch rote Lippenstift. Laute Musik kleistert die Verzweiflung zu.
Zugleich ist es auf der weitgehend leeren, tiefschwarzen Bühne ein hochästhetischer Vorgang: In pudrig-staubigen Wolken drängt der von Antigone immer wieder aufgeworfene Kreidestaub auch ins Parkett, die Figur verbindet sich mit dem Bühnenbild, und das Bühnenbild legt sich auch auf die Zuschauer. Alle tragen Schuld, das Trauma ist ein kollektives.
Gegen den Prinzipienreiter Kreon hat die Rasende keine Chance. Ernst Stötzner spielt ihn glänzend, als einen vermeintlich vernünftigen Staatsmann, der nach dem großen Schlachten endlich Ordnung sucht, der hadert, aber in seiner Ratio letztlich ebenso fanatisch ist wie Antigone in ihrer Emotion. Der Mensch vernichtet sich durch Selbstüberschätzung. Den Kernsatz darf Ute Hannig sprechen, eine Diplomatin, auf die nicht gehört wurde, der schwarze Anzug längst ebenfalls mit Kreide beschmiert. In einem der letzten großen und doch ganz zarten Monologe des Abends – und damit der gesamten furiosen, furchtlosen, düsteren Antiken-Serie: „Gewaltig ist vieles, aber nichts ist gewaltiger als der Mensch“, sagt sie. Geschlagen, das nackte, kahlköpfige Bündel Antigone im Arm. Der Frieden und die Ordnung der Dinge bleiben eine Illusion. Überall verbranntes Land, und nichts wird gut.
Theaterserie „Anthropolis“: Jede Folge funktioniert für sich, hat eine eigene Unverwechselbarkeit
Am Ende hört man wieder die Zikaden, mit denen schon der Prolog vor Wochen begann. Der alte Mann in seiner Weste (Michael Wittenborn, dessen Teiresias sich als einzige Figur durch das gesamte Projekt zieht) steht allein auf der großen, verwüsteten Bühne, spricht von Wurstbroten, Regionalbahnen und ausgerotteten Völkern. Es ist ein stiller Schluss, den Karin Beier für ihr Mammutprojekt findet, das derart überbordend begonnen hatte.
Am kommenden Wochenende steht der erste Serien-Marathon an, schon im Dezember folgt der nächste. Und man wird dann noch einmal die gesamte Strecke verfolgen können, fünf Inszenierungen nacheinander, die üppigen Ausschweifungen der ersten Episoden, den Rausch, die dionysische Ekstase, wenn Trommler die Bühne bevölkern und ein echtes Pferd. Jede Folge funktioniert für sich, hat eine eigene Unverwechselbarkeit, ist zugleich scharfsinnig und dicht und enorm unterhaltsam. Mal steht das große Schauspielertheater mehr im Vordergrund (Lina Beckmann in „Laios“), mal der quälend genaue, entsetzlich heutige und klug mit den alten Griechen verschränkte Text von Roland Schimmelpfennig wie in „Iokaste“.
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Jeder Abend findet Momente der Leichtigkeit, der Komik, der Albernheit sogar. Und jeder Abend geht ein neues Risiko ein, sucht einen neuen Zugriff, lebt die Extreme und lässt trotzdem Raum für Zwischentöne. Der große Bogen ist dabei stets sichtbar, inhaltlich, aber auch formal und ästhetisch. Eine unglaubliche Leistung der Regisseurin, des Autors, der Dramaturgie, des Ausstattungsteams.
Die Zivilisation ist am Ende. Der Mensch geht an sich selbst zugrunde. Das Theater aber, wenn es sich so präsentiert wie in der Schauspielhaus-Serie „Anthropolis“, war lange nicht so relevant, lebendig, gegenwärtig und spektakulär.
„Antigone“, Deutsches Schauspielhaus, wieder am 29.12., außerdem im Rahmen der Marathon-Wochenenden, an denen alle „Anthropolis“-Episoden gezeigt werden: 8.–10.12., Karten unterwww.schauspielhaus.de