Hamburg. Zweite Premiere des Hamburger Kammerballetts. Neumeier-Star Edvin Revazov tritt dabei mit aus der Ukraine geflüchteten Tänzern auf.

Ein ungewöhnliches Publikum hat sich im Sprechwerk versammelt. Hier, wo meist Vertreter des auf den dramatischen Text fokussierten Sprechtheaters ihre Aufführungen zeigen, drängelt sich diesmal die internationale Ballettwelt, im Foyer hört man englische und ukrainische Sprachfetzen, es ist wuselig und ungeordnet.

Das Hamburger Kammerballett zeigt seine zweite Premiere „Rawness“ auf der kleinen Off-Bühne in Borgfelde, ein Ensemble, das der Hamburg-Ballett-Solist Edvin Revazov gemeinsam mit aus der Ukraine geflüchteten Tänzern gegründet hat und das sich mit einiger Vehemenz in der Hamburger Tanzszene zu etablieren versucht.

„Rawness“: Ballett im Sprechwerk – künstlerisch ein Quantensprung

Und „Rawness“ zeigt, mit welch großen Schritten diese Etablierung voranschreitet. War „White Noise“ vor fünf Monaten im First Stage Theater noch eine an Revazovs Hauptwirkungsstätte geschulte Übung in gesitteter Neoklassik mit beeindruckendem Tanzhandwerk, so traut sich die neue Produktion konsequent ins Zeitgenossentum.

Schon gleich der Beginn des Triple-Bill-Abends, Marco Goeckes 2003 für die Stuttgarter Noverre-Gesellschaft entstandenes „Blushing“, verstört mit harschen Punkklängen, Verweigerung von Harmonie und den abgezirkelten Bewegungsmustern, die mittlerweile zum Markenzeichen dieses Choreografen wurden, vor 20 Jahren aber noch sensationell neu waren.

Dass Goecke zur Pesona non grata des Tanzes wurde, nachdem er im Februar eine Kritikerin mit Hundekot beschmiert hatte, ist nachvollziehbar, die Interpretation des Hamburger Kammerballetts aber zeigt, welche Kraft und welches Verstörungspotenzial bis heute in seiner Tanzästhetik stecken. Und dass Revazov die Arbeit ins Programm nimmt, ist eben auch ein Statement: gegen die endgültige Verdammung Goeckes, für die Kunst.

Unmittelbarkeit der kleinen Bühne schafft einen rauen, ungeschliffenen Subtext

Es folgen zwei Uraufführungen: zunächst „Re-Growth“ von Luca-Andrea Tessarini, einst Tänzer in Hamburg, heute beim Nederlands Dans Theater. Tessarini schließt direkt an Goecke an, lässt zu technoiden Rhythmen ebenfalls abgezirkelt tanzen, nur um dann in einem radikalen Schnitt das Roboterhafte durch Individualität und Sensibilität zu ersetzen. Plötzlich sind Soli möglich, eines von Viktoria Miroshyna, eines Nikita Hodyna, träumerisch, warm. Nur um dann wieder in die industriellen Beats zu fallen – eine vielschichtige, eine starke Arbeit.

Den Abschluss macht Revazov selbst, und der erweist sich mit „E/Motion“ als zuständig für die Konvention: Das Stück ist ein langer Pas de deux, getanzt nicht vom eigentlichen Kammerballett, sondern von den vom Hamburg Ballett ausgeliehenen Ida-Sofia Stempelmann und Florian Pohl.

Revazov choreografiert hier Aggression, Abstoßung und Anziehung, ein klassischer Geschlechterkampf im Grunde, der in seiner traditionellen Männer-Frauen-Binarität ein wenig konservativ wirkt. Aber: Die Unmittelbarkeit der kleinen Bühne schafft einen rauen, ungeschliffenen Subtext, der einen interessanten Kontrast zum perfekten Tanz des Duos herstellt, ähnlich wie das harsche Geigenspiel von Brieuc Vourch, der selbst immer wieder angetanzt wird. „Rawness“, „Rohheit“, im Wortsinne. Und künstlerisch ein echter Quantensprung.

„Rawness“ wieder am 4.11., 19.30 Uhr, 5.11., 15 und 19.30 Uhr, Hamburger Sprechwerk, Klaus-Groth-Straße 23, Tickets können Sie hier kaufen.