Hannover/Hamburg. Goecke beschmiert Journalistin mit Kot, den er gerade entsorgen wollte. Nun teilt er erneut heftig aus. Staatsoper erteilt Hausverbot.

„Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.“ Was Goethe anno 1774 zu Papier brachte, zielte eher halblustig auf einen Kritiker, der sich wohl zuvor am „Götz von Berlichingen“ abgearbeitet hatte. Und wird auch heute noch gern als kleine Gehässigkeit aus dem Klassiker-Regal gezogen, um, bildungsbürgerlich wattiert, ein Nicht-Einverständnis mit Sinn und Zweck von professioneller Kulturkritik an sich zu signalisieren. Doch in den letzten Jahren wurde der Ton nicht nur rauer, es wurde auch konkreter und handgreif­licher. Die Nerven liegen blanker.

Der tätliche Angriff von Marco Goecke, Ballettdirektor an der Staatsoper Hannover, auf die „FAZ“-Tanzkritikerin Wiebke Hüster, die er am Wochenende in einer Premierenpause erst beschimpfte und dann angriff, ist die bislang letzte Eskalationsstufe. Goecke redete sich während des Gesprächs in Rage, ergriff schließlich eine mit Hundekot gefüllt Tüte und schmierte den Inhalt der Kritikerin ins Gesicht.

Hüster floh schreiend und weinend auf eine Damentoilette, wo ihr eine Pressesprecherin des Theaters half, die Exkremente zu beseitigen. Es folgte der Gang zur Polizei und eine Strafanzeige.

Hundekot-Eklat in Hannover! Ballettchef suspendiert

Am Montag nun folgte die Reaktion. Marco Goecke wurde als Ballettchef von der Staatsoper suspendiert und mit einem Hausverbot belegt. Er habe „durch seine impulsive Reaktion gegenüber der Journalistin Wiebke Hüster gegen alle Verhaltensgrundsätze der Staatsoper Hannover verstoßen, Frau Hüster persönlich zutiefst beleidigt und das Publikum, die Mitarbeitenden des Hauses und die allgemeine Öffentlichkeit auf das Extremste verunsichert“, heißt es in einer Erklärung der Staatsoper.

Damit habe er auch der Staatsoper und dem Staatsballett Hannover massiv geschadet. An Goecke erging die Aufforderung, sich umfassend zu entschuldigen und gegenüber der Theaterleitung zu erklären.

Marco Goecke rechtfertigt sich für Hundekot-Eklat

Goecke selbst äußerte sich zunächst auf Instagram („Ich arbeite seit 25 Jahren und schlechte Kritiken sind mir egal!!! Aber es gibt Grenzen!“) und inzwischen auch im NDR. Das kurze Fernseh-Interview wirkt wie eine wenig einsichtige Rechtfertigung des eigenen Übergriffs. Er sei zwar „ein bisschen erschrocken über mich selber“, dennoch folgt das große „Aber“. Die Wahl der Mittel sei „sicherlich nicht super“ und „gesellschaftlich bestimmt nicht anerkannt“, sagte Goecke.

Dann aber wurde es wild in seiner Erklärung. Die Rezensionen von „FAZ“-Kritikerin Wiebke Hüster nannte er einen „Vernichtungskrieg“, der ihm offenbar seit Jahren zusetzt. „Wenn man in der Öffentlichkeit steht und über Jahre sein Werk durch eine Journalistin beschmutzt sieht, dann heißt es, das sei der Preis, wenn man eine Person des öffentlichen Lebens ist. Aber ab einem gewissen Punkt bin ich da anderer Meinung.“

Goecke wollte den Hundekot gerade entsorgen ...

Seiner Meinung nach würden viele Journalisten seine Meinung teilen. „Ich weiß von 99 Prozent der Tanzschaffenden in diesem Land, dass sie sich von dieser Frau über Jahre extrem verletzt gefühlt haben“, sagte Goecke, der Hüster am Tag des Eklats zum ersten Mal begegnet sei. Er habe nur mit ihr reden wollen, doch ihre Reaktion sei „aggressiv, arrogant und herablassend“ gewesen.

In dem Moment habe er eine Tüte mit dem Kot seines Dackels bei sich geführt. Er habe sie gerade entsorgen wollen, entschied sich dann aber spontan, sie Hüster ins Gesicht zu schmieren. Seiner Tat gingen „jahrelange Verletzungen, die über das normale Maß hinausgegangen seien“ voraus. Der Schmerz saß offenbar tief. Goeckes Fazit: „Sie hat mich auch jahrelang mit Scheiße beworfen“ – symbolisch, versteht sich.

„FAZ“-Kritikerin: meinungsstark und polemisch

Der Vorfall ist mehr als ein Verlust an Impulskontrolle eines narzisstisch gekränkten Künstlers. Er entbehrt nicht einer gewissen Tragik, denn der vielfach ausgezeichnete Marco Goecke ist sicherlich der derzeit innovativste, unkonventionellste Vertreter seiner Zunft im deutschsprachigen Raum. Seine beiden jüngsten Kreationen „A Wilde Story“ und „Der Liebhaber“ lieferten virtuose Ballett-Höhepunkte. Allerdings gilt Goecke – den man eigentlich immer in Gesellschaft seines geliebten Dackels „Gustav“ sieht – als launenhafter Exzentriker.

Die Zufallsbegegnung mit der Kritikerin, die tags zuvor seine neue Choreografie „In the Dutch Mountains“ in Den Haag mit durchaus unerbittlicher Wortwahl verriss, wobei sie auch ein paar löbliche Sätze verlor, triggerte ihn offenbar zu dieser extremen Tat. Die man durchaus als weitaus inakzepta­bler einschätzen kann als eine „Verletzung der persönlichen Integrität“, wie es Laura Berman, Intendantin der Staatsoper Hannover, am Tag danach formulierte.

Das Verhältnis von Kunstschaffenden zu Rezensenten ist naturgemäß nicht immer ungetrübt. Gerade in der „FAZ“ ist man neuen Strömungen und Entwicklungen in der Kunst gegenüber bisweilen weniger aufgeschlossen. Wiebke Hüster bewertet Tanzabende kenntnisreich und meinungsstark, aber auch gern polemisch und scharf im Ton.

Schauspielhaus-Chefin stellt etwas klar

Goeckes Angriff fällt in eine Zeit, in der die Theater ohnehin mit Veränderungen von Strukturen und Machtmechanismen zu tun haben. Zudem müssen die Kunstschaffenden ihr Publikum nach der Pandemie zurückgewinnen. Vielerorts gelingt das, zugleich werden die von Krisen geschüttelten Haushaltslagen schwieriger. Die Nervo­sität nimmt zu. Die Hamburger Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier hatte die Kritik in einem Radio-Interview vor einiger Zeit als „Scheiße am Ärmel der Kunst“ bezeichnet.

Beier sieht ihr Zitat jedoch aus dem Zusammenhang gerissen. Sie habe verdeutlichen wollen, „dass Theaterkritik nicht immer spurlos an den Theaterschaffenden vorbeigeht und mitunter das irrationale Gefühl vermittelt, als Makel an der kritisierten Person haften zu bleiben“, erklärte sie nach dem Hundekot-Vorfall auf Abendblatt-Anfrage. Um auf die Verletzbarkeit des Menschen durch Worte hinzuweisen, habe sie „ein möglicherweise ungeeignetes sprachliches Bild“ benutzt.

Nie sei es ihre Intention gewesen, die Freiheit der Theaterkritik oder gar gleich der ganzen Presse anzugreifen. Zum aktuellen Fall meint sie: „Hier wird die Würde eines Menschen beschmutzt – ein Vorgang, der allem widerspricht, was ich in meinem Sagen und Tun anstrebe.“

Hundekot-Eklat von Hannover schockiert Brosda

Während Hamburgs Ballettchef John Neumeier sich am Montag zurückhaltend äußert („Dass er ausgerastet ist, ist nicht in Ordnung“), finden Kampnagel-Chefin Amelie Deuflhard („schockierend und absolut inakzeptabel“) und Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda deutlichere Worte: „Ich war wirklich fassungslos, als ich davon gehört habe.“

Der Vorfall in Hannover sei schlimm und in keiner Weise zu tolerieren, so Brosda. „Die Freiheit der Kunst und die Freiheit der Medien gehören untrennbar zusammen. Wer künstlerisch in der Öffentlichkeit wirkt, muss mit Kritik umgehen können. Wer das nicht kann, beschädigt auch die Grund­lage des eigenen Arbeitens nachhaltig.“