Hamburg. Iris Berben, Mischa Maisky und das A-Cappella-Ensemble amarcord traten auf. Vor der Halle wurde an die Geiseln der Hamas erinnert.
Rote, heliumgefüllte Luftballons streben an ihren Schnüren nach oben. Ein Kindergeburtstag am Abend, im Dunkeln, vor der Laeiszhalle? Beim Näherkommen zeigt sich, dass jeder Luftballon an einem Plakat befestigt ist. Sie kleben auf dem Boden und an Straßenlaternen. Auch der Dreirad-Kastenwagen, der auf dem Vorplatz parkt, ist über und über mit Plakaten beklebt. „Entführt“ steht über jedem einzelnen, jedes zeigt ein anderes Gesicht. Das Gesicht einer Geisel, die infolge der Terroranschläge vom 7. Oktober in die Hände der Hamas geriet.
Zwischen Trauer und Trost: bewegendes Konzert für Israel in der Laeiszhalle
In der Laeiszhalle findet ein Konzert für Israel statt. „Hineni“ ist es überschreiben, das ist hebräisch und heißt auf Deutsch: „Hier bin ich“. So antworten laut dem Alten Testament Abraham und Moses auf den Ruf Gottes. Daniel Kühnel, Intendant der Symphoniker Hamburg und selbst aus Israel stammend, hat das Programm kuratiert. Er hat die Künstler und Künstlerinnen zusammengebracht und die vielfältige Unterstützung eingeworben, die es für so ein Unterfangen braucht, selbst wenn die Mitwirkenden ohne Honorar auftreten. Unter ihnen so prominente wie die Schauspielerin Iris Berben und der Cellist Mischa Maisky.
Die Laeiszhalle ist voll bis in die obersten Ränge. Was für ein Zeichen von der Hamburger Zivilgesellschaft. Kultursenator Carsten Brosda hält eine Rede, in der er klare Worte dafür findet, dass die Morde auch auf deutschen Straßen gefeiert wurden. „Machen wir uns nichts vor: Antisemitische und menschenfeindliche Einstellungen und Ideologien sind nichts Importiertes.“ Brosda spricht weniger frei, als man es von ihm kennt, seine Stimme klingt leicht zittrig.
Daniel Kühnel zitiert in seiner Ansprache die jüdische Philosophin Hannah Arendt: „Wenn man als Jude angegriffen ist, muss man sich als Jude verteidigen.“ Ein wehrhafter Satz. Doch Kühnel fordert auch, sich von den moralischen Wirren nicht das nehmen zu lassen, was es brauche, um den eigenen Kompass zu bewahren: „Unterscheiden und benennen, immer wieder“:
Bei Bach ist der Urgrund des Gottvertrauens immer hörbar
Das Programm selbst enthält sich jeder Politik. Im Mittelpunkt stehen Gedichte, die Iris Berben vorträgt. Gerahmt wird die Rezitation von Musik verschiedenster Epochen und Stile, dramaturgisch klug gegeneinandergesetzt. Den Anfang macht Maisky mit der Sarabande aus der Suite für Cello solo von Bach. Voller Pausen ist der Satz, ein banges Staunen, und doch ist bei Bach der Urgrund des Gottvertrauens immer hörbar.
Es folgt der ein frühbarocker Choral von Salomone Rossi, gesungen von dem Leipziger A-Cappella-Ensemble amarcord. Die Tonsprache ist westlichen Ohren vertraut, aber es handelt sich nicht um katholische, sondern um weit weniger bekannte jüdische liturgische Musik. Rossis Choräle sind gleichsam die Eckpfeiler. Seine Dynamik entwickelt das Programm in Gedichten, hebräischen Liedern und Variationen über „haTikvah“, komponiert von dem Bassisten und musikalischen Leiter Haggai Cohen-Milo für zwei Saxofone, Schlagzeug und Bass.
Laeiszhalle – ein Aufschrei voller Schrecken: „Ich will nicht sterben. Nein!“
Die Gedichte stammen aus der Feder der jungen Selma Meerbaum, die 1942 mit 18 Jahren in einem SS-Arbeitslager starb, und sind vor Meerbaums Deportation entstanden. Die Autorin wusste um ihre Situation, benennt sie in den Texten aber nicht ausdrücklich. Es ist die Lyrik einer Liebenden zwischen Hoffnung und Enttäuschung, vielfach symbolisch ausgedrückt in Naturbeobachtungen.
In „Sturm“ etwa bangt das lyrische Ich um eine Rosenknospe im Frühling, die sich noch nicht geöffnet hat. „Du weißt: Wenn jetzt ein Frost kommt, stirbt sie, / stirbt und hat das Leben nicht gelebt.“ Die Zeilen sind kaum zu ertragen bei der Vorstellung, dass das Leben der Dichterin genauso abbrach wie vor wenigen Wochen das junger Menschen, die in der Wüste ein Festival feierten. Erst das letzte Gedicht, „Poem“, nähert sich dem Schrecken konkreter. „Warum brüllen die Kanonen?“, heißt es da, und an anderer Stelle der Aufschrei: „Ich will nicht sterben. Nein!“
Iris Berben trifft die Tonlagen zwischen Aufbegehren und Verzweiflung traumwandlerisch sicher. In den hebräischen Liedern lädt die Sopranistin Alma Sadé all die Arabesken und Schlaufen der orientalischen Melodik mit ergreifender Dringlichkeit auf. Auch wer die Texte nicht versteht, kann die Entwicklung von resignativer Versunkenheit bis hin zum dramatischen „Ha’Cholmim achar Ha’shemesh“ musikalisch nachvollziehen.
Es herrscht eine fühlbare Einigkeit im Saal, ob im gespannten Zuhören oder im warmen, anhaltenden Schlussapplaus. Gut eineinhalb Stunden lang hatten Fassungslosigkeit, Schmerz und Trost ihren Platz.
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Vor dem Ausgang hält eine Frau ein Pappschild hoch. „Iranians stand with Israel“ hat sie draufgeschrieben und den Davidstern dazugezeichnet. „Dem Westen ist nicht klar, dass viele Iraner das Attentat verurteilen“, sagt sie und erzählt, dass Menschen im Iran, die sich mit Israel solidarisieren, erschossen würden. Mina, so ihr „Kampfname“, will auch die Rückseite ihres Pappschilds zeigen. „Women Life Freedom“ steht da. Ihre zierliche Gestalt ist kaum noch zu sehen dahinter. Nur die Israel-Fahne in ihrer rechten Hand.