Hamburg. Der vierte Teil der „Anthropolis“-Serie am Schauspielhaus liefert einen starken Text und kraftvolle Bilder. Selten war Theater so relevant.

In jeder guten Serie gibt es in der vorletzten Folge noch einmal eine Steigerung, einen Wendepunkt. Die Hauptfiguren landen noch einmal tiefer in Elend und Schwierigkeiten. Das gilt auch für die Protagonisten der Antikenbefragung „Anthropolis: Ungeheuer. Stadt. Theben“ am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg.

In der Uraufführung des vierten Teils „Iokaste“, wiederum inszeniert von Hausherrin Karin Beier, herrscht erbitterter Krieg. Zwei unversöhnliche Brüder stehen einander mit ihren Heeren gegenüber. Und keine friedliche Lösung, kein Wille zur Versöhnung, nirgends.

„Iokaste“ am Deutschen Schauspielhaus: Vieles wirkt erschreckend vertraut

Vieles kommt einem erschreckend vertraut vor, was da auf der Bühne gesprochen wird in diesen Tagen des neu aufgeflammten Nahostkonfliktes und des andauernden Ukraine-Krieges: die Unerbittlichkeit des Gemetzels, die Sinnlosigkeit von Tausenden Toten, die zu nichts führen wird – vor allem zu nichts Gutem.

„Iokaste“ ist diesmal inspiriert von den Ursprungstragödien „Sieben gegen Theben“ von Aischylos und „Die Phoenissen“ von Euripides. Roland Schimmelpfennig hat sie mit Raffinesse auf ihre Essenz eingedampft und neu verfasst. Und der Dramatiker erweist sich erneut auf der Höhe seiner Kunst. Der Text ist packend, heutig, entschieden und schafft es, die Wendungen der Handlung stets verständlich zu halten.

Iokaste-Darstellerin Julia Wieninger spielt sich ins Zentrum des Abends

„Es gab einmal eine Zeit, da hatten wir alle noch Hoffnung auf Zukunft“, sagt Julia Wieningers Iokaste. Im hellen Anzug (Kostüme: Wicke Naujoks), die Haare nach der Selbstblendung ihres Mannes – und zugleich Sohnes – Ödipus zur Glatze geschoren – die Maske hat hier ganze Arbeit geleistet. Wieninger spielt sich mit der Klarheit der Verzweiflung als große Tragödin ins Zentrum des Abends.

An einem langen Tisch versucht sie, die Widersacher zu versöhnen. „Es muss Frieden geben, es muss Frieden geben können, und gibt es keinen Frieden, dann muss Frieden verhandelt werden“, repetiert sie gebetsmühlenartig. Doch ihre beiden Söhne, der heißblütige Eteokles und der nicht minder beharrliche Polyneikes, ringen um die Macht. Eteokles glaubt, die Stadt retten zu müssen, und enthält seinem Bruder den ursprünglich vereinbarten jährlichen Wechsel als Herrscher des Staates vor. Polyneikes wiederum versammelt seine Heerscharen und will sich mit Gewalt nehmen, was ihm zusteht.

Iokaste kann das Unheil nicht abwenden

Eine Diplomatie des Verzichtes oder einer möglichen Verhandlung ist nirgends greifbar. „Euch beide treibt nichts als der Wahn der blinden Wut“, erkennt Iokaste. Maximilian Scheidts Eteokles und Paul Behrens‘ Polyneikes verfangen sich in ihren Sätzen, verschrauben sich, die Lautstärke immer weiter anziehend bis zum Gebrüll. In schwarzen Unterhemden und schwarzen Lederhosen reden sie mit viel Schaum – und bald Blut – vor dem Mund und geben dabei ein maximal martialisches Bild ab.

Sie sind diesmal auf sich gestellt. Keine Götter, Natur- oder Weltgesetze diktieren ihnen, was ohnehin vorherbestimmt wäre. Sie können – sie müssen selbst entscheiden. Und so heben sie immer neu zur gleichen Rede an „obwohl es nichts zu sagen gibt“. „Dieser Krieg bringt nichts als unzählige Opfer. Wie jeder Krieg“, kann auch Iokaste nur immer düster wiederholen. Das Unheil, dass ihre Söhne sich gegenseitig nach dem Leben trachten werden unter hohen Verlusten und entsetzlichem Abschlachten auf beiden Seiten, kann sie nicht abwenden.

Auch Menoikeus‘ Heldentod ist vergebens

Neben dem starken Text liefert der Abend kraftvolle, von finsteren Klängen Jörg Gollaschs untermalte Bilder. Der von Johannes Schütz gestaltete Raum ist diesmal tiefschwarz, nur ein gemaltes Flugzeug und eine Weltkarte rotieren hilflos. Maximilian Scheidts Eteokles schichtet weiße Steine aufeinander, die von Paul Behrens‘ Polyneikes schon bald wieder mit dem Hammer eingerissen werden. Behrens stopft einen ganzen Topf Nudeln in sich hinein. Kreons zweiter Sohn Menoikeus, gespielt von Daniel Hoevels, will sich opfern für die Zukunft der Stadt – in weiß angemaltem Gesicht führt er als trauriger Clown einen Tanz der Verzweiflung auf, um schon bald entseelt von der Bühnendecke zu baumeln. Allein bringen wird auch dieser vermeintliche Heldentod nichts.

Die Ausweglosigkeit des Krieges, sie schallt hier auch in einer Rede des von Michael Wittenborn wiederum gegebenen blinden Sehers Teiresias wider. Er gibt aus dem Off Einblicke in moderne Kriegsberichterstattung mit ihren Scharfschützen, Raketeneinschlägen, Unterbodenkontrollen an Fahrzeugen, Blauhelmen, Fluchtkorridoren und verlustreichen Angriffen auf Schulen. „Kommentare, Analysen, Appelle. Sondersitzungen. Schließlich: überstürzter Rückzug aller internationalen Kräfte.“

„Iokaste“: Cliffhanger zur „Antigone“ kündigt sich bereits an

Am Ende bringt es die von Josefine Israel kraftvoll gegebene Ismene – neben Antigone die zweite Tochter der Iokaste – im Lederfransenkleid mit blondem Kurzhaar auf den Punkt, wenn sie von der Abwesenheit Gottes im Krieg spricht und von dem Ende jeglicher Zivilisation, die der Krieg darstellt. „Krieg ist erst Absicht, und dann ist Krieg Zufall, warum aber zufällig sterben, wofür? (…) Ist es das wert?“

Und der Cliffhanger zum letzten Teil, „Antigone“ in zwei Wochen, kündigt sich bereits an, wenn Ernst Stötzners Kreon, die bisher ewige Nummer zwei des Staates, darauf beharrt, dass Polyneikes – in seinen Augen Verräter an der Stadt – unbegraben auf dem Schlachtfeld liegen bleiben müsse. In einer ergreifenden Szene beweint er, mehr Vater als Herrscher, den Opfertod seines Sohnes Menoikeus. „Am Ende ist nichts erschütternder als der sinnlose Tod eines Kindes“, sagt Ismene.

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Es sind einfache und doch wuchtige, machtvolle Sätze wie diese, die dem Zuschauer direkt ins Mark schneiden.

Das künstlerische Duo Karin Beier und Roland Schimmelpfennig hat sich mit „Iokaste“ noch einmal gesteigert. Das Wagnis, eine fünfteilige Antikenserie aufzulegen, darf schon jetzt als Sensation gelten. Eine, die auch inhaltlich, szenisch, schauspielerisch ihr Versprechen einlöst. Eine eindringliche Inszenierung – gerade in diesen von Kriegen neuerlich erschütterten Tagen. Selten war das Theater so dicht dran an der Stadtgesellschaft. Und selten war es von so erschreckender Relevanz.

„Iokaste“ weitere Vorstellungen 29.10., 16 Uhr, 3.11., 20 Uhr, 19.11., 16 Uhr, 10.12., 16 Uhr, 28.12., 19.30 Uhr, Deutsches Schauspielhaus, Kirchenallee 39, Karten unter T. 24 87 13; www.schauspielhaus.de