Hamburg. „Die Eiskönigin“ geht, „MJ“ kommt: Ein Künstler, den manche seit Jahren boykottieren wollen. Es ist kompliziert, aber nicht für alle.

Angekündigt wurde das Musical über den Mann, den man den „King of Pop“ nannte, im Jahr 2018. Von einer am Broadway beheimateten Produktionsfirma (Columbia Live Stage) und einer Vereinigung namens „Estate of Michael Jackson“, die sich um das Erbe des 2009 gestorbenen Künstlers kümmert. In „MJ – The Musical“ geht es um Jacksons Karriere bis 1992. Ein gut gewählter Zeitpunkt, weil erst 1993 erstmals Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs gegen Jackson laut wurden.

Wie nervös die Macher des Musicals ein Jahr nach der Bekanntgabe des Projekts tatsächlich wurden, ist nicht bekannt. 2019 kam der Dokumentarfilm „Leaving Neverland“ heraus, in dem zwei Männer weitere schwere Vorwürfe gegen Jackson erheben. Die Wächter über Jacksons Erbe kritisierten den Film scharf. Für viele Menschen indes war ein Jahrzehnt nach dem Tod des Entertainers endgültig klar, dass Michael Jackson pädophil war. Es gibt in der Tat wenig bis nichts, was gegen diese Annahme spricht.

„MJ – Das Michael-Jackson-Musical“: Ab Herbst 2024 ist es in Hamburg zu sehen

Was einfach klingt, wird spätestens dann kompliziert, wenn man morgens im Radio gerne „Man In the Mirror“ hört, einen von Jacksons großen Klassikern. Darf man da noch mitsummen? Oder soll man wegschalten und sich beim NDR beschweren? Und ist es eigentlich okay, dass in einem Hamburger Musical-Theater ab 2024 eine Hommage an Jackson zu erleben ist? Oder ist der im Hinblick auf bisweilen mindestens unsympathische Zeitgenossen, deren Lieder oder Bücher wir dennoch lieben, vertraute Impuls, zwischen Mensch und Werk zu trennen, auch hier genau richtig?

Auf dem Zenit: : Michael Jackson bei einem Auftritt auf der „Bad“-Tour im Jahr 1988.
Auf dem Zenit: : Michael Jackson bei einem Auftritt auf der „Bad“-Tour im Jahr 1988. © imago stock&people | IMAGO stock

Wahrscheinlich ist das so. Die Kritik hat das Musical, das nach einer pandemischen Verzögerung 2022 am Broadway Premiere feierte, mit gemischtem Urteil aufgenommen, auf das Weglassen des so immens negativen Vermächtnisses des möglichen Missbrauchers Jackson hingewiesen, aber die Existenz der Show nicht infrage gestellt. Auch wenn Jacksons kommerzieller Erfolg nach dem ersten Skandal Anfang der 1990er-Jahre abnahm, blieben ihm viele seiner Fans treu. Verglichen mit heutigen Erregungsroutinen und hochtourigen Bewegungen, die dem Üblen und Falschen oder dem, was als übel und falsch gebrandmarkt ist, gar keinen Raum mehr geben wollen, ging es vor 30 Jahren sowieso gediegen zu. Obwohl gegen Jackson ermittelt worden und das Stigma „Perversling“ in der Welt war, trat Jackson 1995 bei „Wetten, dass..?“ auf.

Popidol Michael Jackson: „Too big to cancel“?

Heute und posthum ist die Beweislast für Michael Jacksons abnormes Privatleben noch ungleich größer. Aber der Maßstäbe setzende Künstler, der mit seinem Jahrhundertalbum „Thriller“ wohl tatsächlich das wurde, was man „unsterblich“ nennt, ist, um eine zum Beispiel vom englischen „Guardian“ aufgebrachte Formulierung zu gebrauchen, „too big to cancel“. Zu groß also, um komplett aus der Öffentlichkeit gedrängt zu werden. Es gibt mehrere Generationen von Menschen, die den Sänger und Tänzer Jackson verehren und mit deren Aufwachsen und popkulturellen Prägungen er eng verbunden ist. In Amerika besuchten bis heute knapp eine Million Menschen das Musical. Mit Jackson kann man also immer noch Geld verdienen.

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„In Deutschland gibt es Millionen Fans des King of Pop, die Show-Qualität und das potenzielle Publikumsinteresse bieten also beste Perspektiven für uns“, teilte ein Sprecher von Stage Entertainment auf Abendblatt-Anfrage mit. Demnach ist die, ja sicher, moralische Frage, wie man mit dem für eine Weile größten Popstar des Planeten verfahren soll, bei Stage Entertainment nicht wirklich diskutiert worden. Beziehungsweise ist der ausdrückliche Hinweis des Theaterbetreibers und Showproduzenten auf die rein künstlerischen Aspekte von Jacksons Biografie, die „entscheidend“ für das Unternehmen seien, dann doch ein abermals ziemlich deutliches Zeichen dafür, dass man keine Sorge hat, sich mit einem Jackson-Musical angreifbar zu machen. „Michael Jacksons überragender Rang als einer der wichtigsten Pop-Entertainer überhaupt wird von kaum jemandem bestritten“, sagt Stage Entertainment.

Stage Entertainment: „Jede Spielplanentscheidung wird diskutiert“

Das künstlerische Genie Michael Jackson zu feiern, sei der Anspruch des Musicals, „und das wollen auch wir als Theaterunternehmen zeigen“. Es ist anzunehmen, dass die Besucher der für die Hamburger Aufführungen eingedeutschten Show (das betrifft die Dialoge, nicht die Lieder) von dieser leicht zu beeindrucken sein werden. In den USA wurde das Handwerk der Sänger und Tänzer gelobt, der Produktionsstandard ist hoch. Was die Performance-Tauglichkeit von Jacksons Songkatalog angeht und auch die seines Triumphzugs an die Spitze, besteht im Übrigen tatsächlich kein Zweifel.

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Dennoch überrascht die Entschiedenheit, mit der Stage Entertainment jederlei Sonderstatus des Michael-Jackson-Musicals eine Absage erteilt, das in seiner deutschen Version „MJ – Das Michael Jackson Musical“ heißen wird. „Jeder einzelnen Spielplan-Entscheidung bei uns gehen umfassende Diskussionen voraus“, teilte der Stage-Sprecher dem Abendblatt mit. Alle Eigenentwicklungen und Shows, die bereits andernorts gespielt worden seien, würden einer „komplexen Prüfung“ unterzogen. Wohlgemerkt in Bezug auf „den Stoff, das Kreativteam, Umsetzungs-Herausforderungen, Publikumsrelevanz, Kostenstruktur, Qualität aller Gewerke, Verfügbarkeit, Timings“. Bei „MJ“ sei das genauso gewesen, „nicht mehr oder weniger als bei anderen Stücken“.

„MJ – Das Michael-Jackson-Musical“: Soll man dem „King of Pop“ in Hamburg eine Bühne geben?

Was wahlweise durchaus unglaubhaft klingt – immerhin ersetzt „MJ“ das nahezu perfekte Familien-Musical „Die Eiskönigin“ – oder erstaunlich konsequent. Ganz unriskant ist die Programmplanung übrigens nicht, es wird sich zeigen, wie viele Fans Michael Jackson im deutschsprachigen Raum noch hat. Wer das Hamburger Musicaltheater besucht, muss dann nicht mal entscheiden, ob man Michael Jackson eine Bühne geben sollte.

Aber vielleicht kommt er zumindest zu einem Urteil darüber, wie man von ihm erzählen sollte. Tatsächlich ohne jede Thematisierung der Abgründe in Jacksons Biografie? Vielleicht kommt man, die bisherigen Kritikerurteile legen dies nahe, ganz grundsätzlich zu der Einsicht, dass man das komplexe Leben Jacksons mit all seinen Kindheitstraumata und den vielen Kontroversen grundsätzlich nicht wirklich im Format des Musicals darstellen kann.

Am Donnerstag, 2. November 2023, startet der Ticketverkauf für „„MJ – Das Michael-Jackson-Musical“.