Hamburg. Der Hamburger Sozialist unter den harten Straßenrappern feierte zum Tour-Abschluss mit 6000 Fans sein bislang größtes Heimspiel.

Die Langhaarigen unter den Fans von Disarstar wringen sich die Haare aus, als sie es am Freitag endlich in die Sporthalle schaffen. Lange haben sie geduldig vor den Eingängen im heftigen Dauerregen gewartet und den quälend langsamen Einlass hingenommen. Alles, um einen der ungewöhnlichsten deutschen Rapper bei seinem Tour-Abschluss in der Heimatstadt zu feiern.

Gerrit Falius alias Disarstar, heute 29, ist nicht der erste Hip-Hop-Star, der aus familiären Krisengründen (über die genauen Umstände spricht er nicht) als Teenager von zu Hause flieht und in Jugendnotunterkünften und geförderten Wohnräumen erwachsen werden muss. Auf St. Pauli. In einem Mikrokosmos aus Kriminalität, Gewalt und Drogen. Disarstar spiegelt seine Umgebung in ersten Gangsta-Rap-Reimen und schlägt zu, als er glaubt, zuschlagen zu müssen: Bewährungsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung.

Disarstar – ein Straßenjunge, der nicht über Frauen und Felgen rappt

Aber anders als der Großteil der Hip-Hop-Konkurrenz feiert Disarstar nicht seine Vergangenheit und den Weg aus der Gosse zu dicken AMG-Sportlimos mit noch dickeren Reifen, sondern beginnt sich, angeleitet von einem Sozialarbeiter, zu hinterfragen. Warum wurde er, wie er war? Und warum herrschen in einer der reichsten Städte Deutschlands so viel Armut und Elend, warum sieht man auf St. Pauli „Obdachlose neben Fußballerfrauen im Range Rover“? Er liest Marx, Hegel und Rawls und lernt Dialektik, Kritik der politischen Ökonomie. Dass er als selbsterklärter Sozialist und Gast kommunistischer Debattenzirkel in seinen beim Branchengiganten Warner veröffentlichten Songs den Kapitalismus angreift und man sich das bei Amazon kaufen kann, gehört für ihn dazu. „Ich bin Teil des Systems, das ich kritisiere“, erkannte er im „Musikexpress“.

„Ich glaube, dass viele Künstler am Höhepunkt ihrer Karriere am depressivsten und kaputtesten sind. An diesem Höhepunkt bin ich zum Glück noch lange nicht“, sagte Disarstar vor zwei Jahren der „taz“. Mit den Alben „Deutscher Oktober“ 2021 und „Rolex für alle“ 2022 knackte er seitdem, nicht ganz zehn Jahre nach seinem ersten Plattenvertrag, die Top Ten. Die Sporthalle ist mit 6000 Fans fast ausverkauft. Es ist seine bislang größte Show. Und Disarstar wirkt zum Glück nicht kaputt, sondern geradezu gerührt. „Das hier ist eines der drei, vier, fünf Erlebnisse im Leben. Danke, dass ihr alle gekommen seid“, bedankt er sich, „und wenn wir ausrasten, rasten wir richtig aus.“

Disarstar: Bambule ist hier nicht Albumtitel, sondern Zustandsbeschreibung

Gesagt, getan. Schon als Disarstar mit DJ und Schlagzeuger „Rolex für alle“ durch eine Wand aus Rauch und Konfetti verspricht, macht die Sporthalle ihrem Namen alle Ehre. Alle rasten aus. Bei „Hunger“, „Nachbarschaft“ und „Australien“ sieht der Saal aus wie ein geschüttelter Topf voll Wasser. Menschen schwappen hin und her, hüpfen, bilden große Kreisel. Pogo to go. Was in den 80er-Jahren Slime und andere radikallinke Punkrocker waren, sind jetzt Hip-Hopper wie Disarstar, K.I.Z oder Antilopen Gang: Soundtrack der Bambule. Bei den (Absoluten) Beginnern war es 1998 noch ein Albumtitel, hier bei Disarstars Heimspiel ist es Zustandsbeschreibung.

Die ganz jungen Fans standen bei Disarstar in der Sporthalle in der ersten Reihe. Dahinter herrschte 90 Minuten lang Bambule. „Passt aufeinander auf“, bat Disarstar mehrfach.
Die ganz jungen Fans standen bei Disarstar in der Sporthalle in der ersten Reihe. Dahinter herrschte 90 Minuten lang Bambule. „Passt aufeinander auf“, bat Disarstar mehrfach. © jms@jmsphoto.de | Joerg-Martin Schulze

Zwischen den Songs übt sich das junge, alternative und beim FC St. Pauli gern auf der Südtribüne stehende Publikum neben „Disarstar“-Sprechchören in altbewährten Demo-Parolen: „Alerta, alerta, antifascista“, „Siamo tutti antifascisti“, „Ganz Hamburg hasst die Polizei“. Interessanter als die Selbstvergewisserung des Saals ist die Tatsache, dass absolut krasseste Partystimmung herrscht, während Disarstar über Depressionen, Drogensucht, soziale Ungerechtigkeit und Aufruhr rappt: „Und jede Nacht geht‘s ab, Punks, die sich prügeln um Pfand, ja, es ist abgefuckt. Überleben von Hand in den Mund, Hauptsache, Schnapp gemacht“. Dabei sieht es in der Sporthalle wirklich aus, als ob sich Punks wie in einem Asterix-Kloppeknäuel um Pfand prügeln. Was bei frechen 3 Euro Pfand (Schweinesystem!) pro Becher aber auch kein Wunder wäre.

Disarstar: Ein Balladen-Set wie ein handelsüblicher Popstar

Disarstar versteht das A und O des Live-Eintertainments. Er nimmt ein Bad in der Menge und schüttelt Hände, organisiert einen „FLINTA*-Kreis“ bei „Lya“ zum Herumtoben für Frauen und weiblich gelesene Fans und präsentiert sogar wie ein handelsüblicher Popstar ein von Piano begleitetes Balladen-Set mit „Hoffnung & Melancholie“, „Microdose“ und „Unendlichkeitsmomente“. Hier leuchten die Handys, die sonst auffällig seltener im Vergleich zu anderen Konzerten zum Filmen gezückt werden.

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Bei „Trauma“ kommt die Begleitstimme von Nura, die am Montag im Gruenspan auftrat, vom Band. Dafür springt der Berliner Rap-Kollege Luvre47 für „Pausenlos“ und „Meine Stadt schläft nie“ auf die Bühne, und der alarmierend hohe Jubelpegel steigt in einem Rave aus noch mehr Rauch und noch mehr Konfetti in den roten Bereich. So laute „Zugabe“-Rufe hört man selten in Hamburg, und dafür gibt es die etwas andere Hamburg-Hymne „Tor zur Welt“: „Zwischen Cops und betrunkenem Gesocks, ich seh die ganze Welt in einer Runde um den Block.“

Disarstar in Hamburg: Zum Abschluss Konfetti und rote Fahnen bei „Siamo Tutti“

Als Finale erschallt nach 90 Minuten, „Intro“ („Dein Balenciaga-Pulli ist mir egal, du Dulli“) und „Robocop“ ein ausuferndes „Siamo Tutti“: Auf der Bühne werden große rote Fahnen geschwenkt, die letzten Reste Konfetti schweben herab. Gäbe es so etwas wie ein Antifa-Musical, dann wäre das hier die Abschlussszene. Disarstar, der sehr klug ist und sich selber und seine Umwelt ausgesprochen genau und kritisch reflektiert, möchte das so.

Wer eine Botschaft verbreiten will, muss sich bemühen, dass sie ankommt. Mit Sätzen, die nicht nur für „Transpis“ und „Lautis“, für Demo-Transparente und Lautsprecher-Bollerwagen taugen, sondern auch einfach nur für den Weg durch die Pfützen zur U-Bahn: „Verregnetes Ambiente, durchwachsene Gesellschaft. Am Puls im Herzen einer Weltstadt“.