Hamburg. Beim Filmfest Hamburg wurde Sandra Hüller mit dem Douglas-Sirk-Preis ausgezeichnet. Ein Gespräch mit dem Schauspiel-Star.

Sie fühle sich „sehr geehrt, geliebt und gesehen“, erklärte Sandra Hüller am Sonnabend im Cinemaxx-Kino am Dammtor. Eine Rede habe sie nicht vorbereitet zur Verleihung des Douglas-Sirk-Preises, der prestigeträchtigsten Auszeichnung des Hamburger Filmfests, gestand sie, umso herzlicher wirkten ihre spontanen Danksagungen. „Ich muss immer weinen, wenn du singst“, rief sie etwa dem Thalia-Schauspieler Felix Knop zu, der ihr zuvor eine zarte, brüchige Version von John Lennons „Imagine“ gewidmet hatte.

Und sowieso sollte ja gelten: Lieber keine vorbereitete Rede als ein paar laue Sätze nach Wikipedia-Art vom Blatt, womit es Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher zum selben Anlass probierte. Was vielleicht auch deshalb besonders auffiel, weil im Anschluss Hüllers Kollege und Freund Jens Harzer, ebenfalls Thalia-Ensemblemitglied, eine fast schon tiefenpsychologische Auslotung der Hüllerschen Arbeitsweise und Persönlichkeit ablieferte. Dass er dabei auch ein bisschen Filmstoff spoilerte, nahm dem anschließend gezeigten Werk und seiner ausgezeichneten Darstellerin nichts von ihrer atemberaubenden Virtuosität.

„Anatomie eines Falls“ hatte schon in Cannes abgeräumt, in Hamburg feierte der Gewinner der Goldenen Palme nun seine Deutschlandpremiere. Anfang November kommt das Drama regulär in die Kinos. Mit dem Abendblatt sprach die Preisträgerin vorher über ihre aktuellen Filme (es sind gleich zwei), Lampenfieber und ein kommendes Projekt.

Sandra Hüller: „Ich habe keine Angst mehr, meinen Text zu vergessen“

Hamburger Abendblatt: Frau Hüller, Sie sind seit 2010 vier Mal von der Fachzeitschrift „Theater heute“ zur Schauspielerin des Jahres gewählt worden, Sie haben den Eysolt-Ring erhalten und unzählige Filmpreise, jetzt auch den Douglas-Sirk-Preis. Was bedeuten Ihnen diese Ehrungen?

Sandra Hüller: Naja, ich freue mich einfach sehr darüber, dass meine Arbeit verstanden und angenommen wird. Sie berührt scheinbar Leute, die finden, sie müssten mir dafür etwas zurückgeben. Das gefällt mir natürlich.

Wie ist es für Sie, im Rampenlicht zu stehen?

Solange das mit Veranstaltungen zu tun hat, in denen es darum geht, einem Film zu helfen und für ihn Aufmerksamkeit zu erregen, mache ich das gerne.

Sandra Hüller: „Man ist als Zuschauer hin- und hergerissen“

Im Drama „Anatomie eines Falls“, das auch beim Filmfest Hamburg zu sehen ist, spielen Sie eine Frau namens Sandra, die des Mordes an ihrem Mann beschuldigt wird und sich vor Gericht verteidigen muss. Ist diese Sandra für sie glaubhaft?

Sandra Hüller: Der Film stellt das Vertrauen, das man der Figur schenkt, permanent auf die Probe. Man ist als Zuschauer hin- und hergerissen, ob man ihr glauben soll oder nicht. Das hat viel mit unseren eigenen moralischen Überzeugungen zu tun.

Sandra Hüller in „Anatomie eines Falls“.
Sandra Hüller in „Anatomie eines Falls“. © filmfest hamburg | filmfest hamburg

Die Sandra im Film ist eine sehr ambivalente Figur. Sie wirkt einerseits sympathisch, manchmal aber auch selbstbezogen und kühl.

Ich glaube, dass sie unter einem großen Druck steht. Sie muss dafür sorgen, dass sie nicht ins Gefängnis kommt und ihr Sohn alleine aufwächst, nachdem ihr Mann kurz vorher gestorben ist. Da bleibt nicht viel Zeit für Freundlichkeiten. Den Leuten, um die es in ihrem Leben wirklich geht, begegnet sie sehr warm. Es gibt viele Momente im Film, in denen sie sich verteidigen muss. Sie macht das auf eine klare, wenig aggressive Art. Das gefällt mir sehr.

Ist Sandra ein Opfer der ermittelnden Justiz, weil der Staatsanwalt sie vor Gericht sehr hart rannimmt?

Ich glaube, sie würde sich selbst nie als Opfer sehen. Ich habe sie auch nicht als Opfer gespielt. Sie steht tatsächlich sehr unter Beschuss und an manchen Stellen denkt man, das muss auch so sein, weil man die Wahrheit herausfinden möchte. Der Staatsanwalt, den Antoine Reinartz spielt, will den Prozess vielleicht auch gewinnen. Ihm geht es nicht nur um die Wahrheit.

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Wie wollten Sie die Figur anlegen? Hat sie sich während der Dreharbeiten entwickelt oder war das Gerüst von Anfang an klar?

Ich bin nicht so eine Anlegerin. Ich kann mir das vorher immer schlecht ausdenken. Die Arbeit mit Regisseurin Justine Triet war sehr fluide. Wir haben uns gegenseitig viele Impulse gegeben. Ich würde schon sagen, dass vieles während der Arbeit entstanden ist. Ich mag es am liebsten, wenn Figuren im Spiel mit den jeweiligen Partnerinnen und Partnern entstehen. Es entsteht keine Verbindung, wenn man einen Plan hat und den dann durchzieht.

Wie anstrengend ist es, zu spielen, wenn man weiß, dass die Kamera sich auf das Gesicht konzentriert und man alles mit Mimik und Sprache ausdrücken muss?

Der Körper spielt immer komplett mit, auch die Stimme kommt ja aus dem Körper. Mein Gesicht macht keine Sachen allein. Es ist ja nur der Ausdruck, das Fenster. Deswegen sehe ich keinen so großen Unterschied zur Bühne.

Haben Sie Lampenfieber?

Es wird besser, ehrlich gesagt. Ich habe neulich von Lars Eidinger gehört, dass es bei ihm auch besser wird, weil er verstanden hat, dass er auf der Bühne scheitern darf. Das ist bei mir auch so. Ich habe keine Angst mehr, meinen Text zu vergessen. Ich komme jetzt in ein Alter, wo das sowieso passieren wird. Warum soll ich mich davor fürchten?

Sandra Hüller: „ Ich habe lange gezögert, die Rolle anzunehmen“

Sie haben wiederholt mit Jens Harzer gearbeitet. Ihre „Pentesilea“ lief lange auch am Thalia Theater. Was ist so besonders an der Arbeit mit ihm?

Die Zusammenarbeit passiert auf Augenhöhe. Jens ist auch ein großer Überprüfer. Diese Art von Genauigkeit gefällt mir sehr gut. Die Möglichkeiten, die er als Schauspieler hat, sind überragend. Er kann in Sekunden vom zärtlichsten Menschen zum absoluten Monster werden. Ich glaube ihm alles, mal abgesehen von der Schönheit der Sprache, die er benutzt.

In „The Zone Of Interest“, der auch in diesem Jahr beim Festival in Cannes ausgezeichnet wurde, spielen Sie die Frau des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß. Haben Sie eine besondere Verantwortung bei dieser Rolle gespürt?

Ja. Ich habe lange gezögert, die Rolle anzunehmen. Ich wusste nicht, ob ich das tragen möchte, bis ich gemerkt habe, es wäre ganz schön feige, es nicht zu machen. Aber ich habe eine Weile für die Entscheidung gebraucht. Christian Friedel und ich waren die einzigen Deutschen am Set. Regisseur Jonathan Glazer hat bewusst deutschen Schauspielerinnen und Schauspielern diese Aufgabe übertragen, weil wir etwas mitbringen, was andere Nationen nicht haben: nämlich das Bewusstsein der Verantwortung, den vorsichtigen Umgang mit dem Thema und eine besondere Genauigkeit.

Was steht in den nächsten Wochen für Sie an?

Mehrere Dinge gleichzeitig. Mit beiden Filmen sind wir demnächst international und auch in den USA unterwegs. Die amerikanischen Verleihfirmen haben uns ganz gut eingespannt. Parallel unterrichte ich ab November in Leipzig an der Hochschule für Musik und Theater. Und ich bereite den Film „Rose“ von Markus Schleinzer vor. Dafür beschäftige ich mich gerade mit Frauen in Männerkleidern im 17. Jahrhundert.

„Anatomie eines Falls“ Di 3.10., 12.00, Abaton. Karten: filmfesthamburg.de