Hamburg. Die Moderatorin und der Schauspieler bringen Uwe Johnsons Jahrhundertroman „Jahrestage“ auf die Bühne des St. Pauli Theaters.

Ein Leben auf Papier bringen, das sagt sich so schnell. Uwe Johnson hat mit Unterbrechungen 15 Jahre gebraucht, um ein einziges Jahr – 21. August 1967 bis 20. August 1968 – aufzuschreiben, das allerdings mit absolut allem Drum und Dran, viel Drin und reichlich Drumherum. „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ erstreckt sich über vier Suhrkamp-Bände. Knapp 1800 Seiten, die mit der „New York Times“ als Leitmedium auf das damalige Jetzt in New York blicken, aber auch auf deutsche Vergangenheit in Johnsons Heimat Mecklenburg-Vorpommern. Gerade mal 2,5 Prozent des gesamten Buchtexts schaffen Caren Miosga und Charly Hübner bei ihrem Destillat, mit dem sie nun Johnsons epochales Spätwerk zweimal im St. Pauli Theater „vorführen“. Ein ziemlich irres Projekt. Aber normal hätten beide ja auch langweilig gefunden.

Zum Warmwerden eine arg markuslanzige Frage: Was macht dieses Buch mit einem, dieses Stück, dieses Epos?

Caren Miosga: Die Arbeit an dem Hörbuch hat über ein Jahr gedauert. Für mich waren das kleine Oasen, auf die ich mich gefreut habe, weil ich in meinem Job vor allem nicht literarische Texte schnell in meinen Kopf hinein- und auch schnell wieder hinausschiebe. Sich dann auf so ein Meisterwerk und dessen wunderbare Sprache zu fokussieren ist eine besondere Freude. Ich darf so schöne Sätze sagen wie: „Ich wollte als Kind die Oberfläche vergrößern, auf der die Liebe für Mütter anwachsen darf.“ Das ist Johnson.

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Ein anderer O-Ton Johnson: „Es ist eine Welt, gegen die Welt zu leben.“ Super Arbeitsmotto für Schauspieler, oder?

Charly Hübner: Ja, es gibt sicher Kollegen, die das so machen (lacht). Aber irgendwann geht das nicht mehr … Letztens bin ich auf Bob Dylans „All Along The Watchtower” gestoßen: „There must be some way out of here, said the joker to the thief. There‘s too much confusion, I can‘t get no relief.“ Da ist Johnson für mich das Gegenüber, der sagt: Ich versuche dem, was ich nicht verstehe, ein Relief zu geben. Jetzt haben wir gerade den Ukraine-Krieg, was in Mariupol geschieht, Odessa wurde heute Nacht wieder angegriffen – es passieren dieselben Dinge wie am Ende des Zweiten Weltkrieges, nur mit anderen Vorzeichen.

Und um auch das gleich mal zu klären: Wer hat hier eigentlich wen in dieses Projekt reingequatscht?

Hübner: Schuld ist eigentlich Holger Helwig von der Universität Rostock, der Chef der Johnson-Gesellschaft. Also einer der Chefs. Mit dem haben wir „Das dritte Buch über Achim“ erarbeitet. Der hatte die Idee: Lass doch die „Jahrestage“ noch mal lesen. dann haben wir gesagt, warum eigentlich nicht, ist eigentlich unmöglich. Let‘s do it.

Caren Miosga und Charly Hübner: ein Buch über den Umgang mit Schuld

Wie schwer ist es, als brave Tochter aus dem kleinen wilden Peine in diese mecklenburg-vorpommersche Welt eingelassen zu werden?

Miosga: Ich weiß gar nicht, ob das so ein großer Unterschied ist. Sie unterschätzen die niedersächsische Tiefebene (lacht). Ehrlich gesagt musste ich mich ja viel mehr in das New York der 1960er-Jahre denken. Gesine ist die, die die „New York Times“ liest und mit historischer Präzision auch die eigene Geschichte immer wieder reflektiert – Johnson liefert den historischen Kosmos und die Erklärung.

Buchstäblich zwei andere Welten.

Miosga: Das Mädchen aus Peine hat ja auch eine Geschichte. Auch ich habe eine Familie, die vertrieben wurde und die natürlich auch all die Spuren des Nationalsozialismus und Folgen des Zweiten Weltkrieges mit sich trägt. Das ist es ja, was dieses Buch ausmacht: der Umgang mit Schuld. Das ist das, was Gesine sucht, wenn sie immer wieder versucht, ihre eigene Geschichte zu verstehen, und so präzise historisch nachvollzieht, was sie auch in der „New York Times“ liest. Wahrheit und den Umgang damit, wie wir Schuld aufarbeiten. „Die Katze Erinnerung“ nennt Johnson das.

Der Mecklenburger an sich ist ja eher halbsilbig veranlagt. Wie konnte es trotzdem zu so einer derartigen Erzählschwarte eines Mecklenburgers kommen?

Hübner: Uwe Johnsons Körper war erfüllt von Buchstaben, er hat das in Schrift gepackt. Und wenn er sich mal entschieden hat zu sprechen, dann viel. Ich glaube, er war ansonsten der große Schweiger und für viele ein Rätsel – außer wenn er einen sitzen hatte. Dann war er sofort im Stier-Modus, also auch sehr mecklenburgisch.

Sind Johnsons „Jahrestage“ in Meck-Pomm so eine Art Nationalheiligtum?

Hübner: Ich würde sagen: nein. Alles, was so bürgerlich und akademisch unterwegs ist in Mecklenburg, die kennen das, haben das auch gelesen – aber es ist nicht so wie Fritz Reuter oder zu DDR-Zeiten Helmut Sakowski, weil Johnson auch in der DDR totgeschwiegen wurde. Er ist 1959 rüber und existierte eigentlich nicht als Schriftsteller. Bis 1991 kannte ich das nicht. Ich fände besser, wenn alle das draufhätten. Das würde wahnsinnig viel erklären.

Caren Miosga und Charly Hübner: „Das ist eine komplette Netflix-Serie“

Weil ja alles in diesem Buch mit allem zusammenhängt, ist es nicht mindestens ein Schwerverbrechen, das Ganze auf 90 Minuten herunterzuamputieren?

Hübner: Es ist eine Einladung, dass sich die Leute es danach entweder kaufen oder sich mehr damit beschäftigen. Ja, es ist ein Lebensbuch. Das ist eine komplette Netflix-Serie – aber auch eine ganz krasse historische Analyse. Es ist schön viel Spöllekes dabei, und es ist auch noch eine sehr formale Seelenerfassung.

Sind Sie gemeinsam in die Feldberger Seenlandschaft gefahren, in die Heimat von Johnson und Hübner, als Einstimmung und Vorbereitung?

Miosga: Nein, das hätten wir mal tun sollen … Ich spreche aber auch mit anderen Leuten, die aus der Gegend kommen, darüber, was Johnson uns in diesem Buch zu sagen hat. Auch vor dem Hintergrund, was im Moment in Deutschland los ist. Angesichts der Landtagswahlen, die wir nächstes Jahr in drei ostdeutschen Ländern haben. Welche Verschiebungen stattfinden. Jeder Zwölfte, das wissen wir aus jüngsten Studien, ist mit rechtsextremen Einstellungen einverstanden. Das Misstrauen in die Demokratie wächst; Antisemitismus, Verharmlosung von Naziverbrechen, nicht wenige Leute finden das alles nicht mehr so schlimm. Im Osten Deutschlands mehr als im Westen, aber auch da, wo ich herkomme, steigt die Zahl derer, die ein rechtspopulistisches Weltbild haben.

In dieser Bühnenversion, Vorführung“ untertitelt, soll auch Musik passieren.

Miosga: Ja, ich war total verblüfft, weil ich mir ein sentimentales, plätscherndes Klavier vorgestellt hatte. Aber jetzt rockt es richtig, im 70er-Jahre-Sound, und wird die teils sehr melancholische Stimmung des Buches etwas brechen.

Caren Miosga und Charly Hübner: „In diesem Buch steckt alles“

Eine große Frage: Ist das wahre oder ist das wahrhaftige Literatur?

Hübner: Geile Frage … Wahr sind natürlich die historischen Fakten. Wahrhaftig würde ich ihm subjektiv zuschreiben, seiner Betrachtung der Dinge, seiner Eindeutigkeit. Auf jeden Fall gibt es den Anspruch, dem wahren Leben so wahrhaftig wie möglich nahezukommen. Das wäre jetzt meine These.

Für einen anderen Aspekt sind Sie die Fachfrau: Die „New York Times“ war damals das Leitmedium für das Weltverständnis, das „Tagebuch der Welt“. Damals war die gedruckte Zeitung eine moralische Instanz. Heute ist das nicht mehr so. Wird dieser Text dadurch ganz anders wichtig, war das ein Anreiz für Sie?

Miosga: Was ich da als Journalistin oder auch Chronistin mitnehme, das ist: Man muss Zeitgeschichte im Zusammenhang sehen. Die Meldungen, die Gesine in der „New York Times“ liest, sind ja immer nur kleine Piktogramme. Um das große Bild zu sehen, müssen Sie die ganze große historische Linie sehen. In diesem Buch steckt alles, was jemand wissen muss, der sich mit der deutschen Geschichte beschäftigt. Verpackt in einer teils nüchternen, teils spröden, teils sehr poetischen Sprache. Niemals belehrend, niemals therapeutisch. Was den Schmerz viel schlimmer macht, den Schmerz dessen, was Johnsons Figuren erlebt haben.

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Ich habe noch ein Johnson-Zitat mitgebracht: „Wie ist richtig zu leben und wahrhaft zu sprechen in dieser Welt allseitig haftbar machender Systemzwänge, ihrer ideologischen Täuschungen und propagandistischen Sprachregelungen? Und wie erzieht man ein Kind in dieser Welt?“ Das ist jetzt aber auch gleich das ganz große Besteck, das könnte heute genauso auf einem Plakat der „Letzten Generation“ stehen. Ist dieser Johnson-Text Geschichtsunterricht oder Gegenwartslektion?

Beide: Beides.

Caren Miosga und Charly Hübner: „Das ist unermesslich, das ist echt ein Kontinent“

Das Hörbuch hat 73 Stunden 53 Minuten, und diese Sprache ist nicht immer nur geschmeidig. Nach hinten raus stelle ich mir das Einlesen dann doch anstrengend vor.

Miosga: Wir haben ja nicht in einem durchgelesen und zwei Monate nicht geschlafen. Es ist auch gut, zwischendurch diesen vielschichtigen Text sich setzen zu lassen und ihn nun komprimiert auf die Bühne zu bringen.

Gab es eine Theater-AG-Erinnerung aus der frühen Jugend, die jetzt in Ihnen wieder wach geworden ist?

Miosga: Ja, aber das hat damit gar nichts zu tun. Wir versuchen hier ja nicht, Figuren zu spielen, wir führen sie vor und interpretieren sie. Ich hatte zu Schulzeiten in der Tat einen tollen Theaterlehrer, der in der Performance-Tradition von Nam June Paik oder Joseph Beuys gearbeitet hat. Also habe ich nicht klassischerweise Romeo und Julia spielen müssen, wir haben ein Kettensägenmassaker auf der Bühne veranstaltet oder einen alten VW vergraben.

Noch können Sie ja Ihre Talkshow bei der ARD absagen.

Miosga: Ach nö. Jetzt rede ich mit der Politik unter anderem darüber, dass SIE alte VWs begräbt (lacht).

Wie sieht es mit einer weiteren Beschäftigung mit dieser Johnson-Langstrecke aus?

Hübner: Beim Lesen habe ich ganz oft gesagt: Wäre ich ein steinreicher Erwin, würde es mich total reizen, diese 1800 Seiten als Film zu machen. Homer hat versucht, bei der Ilias und Odyssee die Entwicklung vom Mythos hin zur Zivilisation zu beschreiben. Da hat Johnson gelernt. Und deswegen ist er für mich auch der wichtigste deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, obwohl er zehn Jahre vor dem Mauerfall starb. Das ist unermesslich, das ist echt ein Kontinent.

Miosga: Aber wie würdest du so einen Film machen?

Hübner: Auf gar keinen Fall im Spielfilmformat denken. Ein Kameramann sagte letztens zu mir: In der Filmkunst sind wir im Moment noch in der Höhlenmalerei. Das finde ich einen super Satz. Schon das erste Bild, wie sie da draußen am Strand ist, mit der Tochter, und dann nach New York reinfährt – das ist eine ganz klassische Filmsequenz.

Ich habe das vage Gefühl, „Jahrestage“ wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass Sie beide was zusammen machen. Ist da schon was in Arbeit oder …?

Miosga: Wir melden uns dann.

Termine: St. Pauli Theater, 29.9. (16 Uhr), 30.9. (20 Uhr). Buch: „Jahrestage 1–4.“ (Suhrkamp, 2150 Seiten, 44 Euro). Hörbuch: „Jahrestage. Ungekürzte Lesung“ (Der Audio Verlag, 8 MP3-CDs, 60 Euro).