Hamburg. Seit Jahresbeginn 42 Ermittlungsverfahren gegen Beamte wegen Körperverletzung. Verfahren wegen 1.-Mai-Vorfall läuft noch. Neue Studie.
Ein paar Minuten mussten die zukünftigen Polizisten und Polizistinnen in Reih und Glied warten, ehe sie im Innenhof des Rathauses am Montagvormittag ihr Sonntagslächeln zeigen durften. Als sich dann Innensenator Andy Grote (SPD) mit minimaler Verspätung neben Polizeipräsident Ralf-Martin Meyer in die erste Reihe gesellte, konnte das Blitzlichtgewitter endlich losgehen. Hier ein Grinsen, dort ein Lächeln. Insgesamt 123 Nachwuchskräfte wurden vereidigt – und sollen von nun an für die Zukunft der Hamburger Polizei stehen.
In der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart scheint es dagegen Dinge bei der Polizei zu geben, über die man derzeit nicht so einfach hinweglächeln sollte. Diesen Schluss muss man jedenfalls ziehen, wenn man sich die neueste Studie der Uni Frankfurt über das schwierige Thema Polizeigewalt zu Gemüte führt. Im Rahmen eines Forschungsprojekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) wurden 3300 mutmaßlich Betroffene von Polizeigewalt befragt sowie 60 Experteninterviews geführt. Eines der zentralen Ergebnisse der Studie: Nach Ansicht der Wissenschaftler wird unangemessene Polizeigewalt nur selten aufgearbeitet.
Polizeigewalt in Hamburg: 2022 gab es 221 Verfahren
Das gilt auch für Hamburg. Nach einer Kleinen Anfrage der Linken hat der Senat eingeräumt, dass im gesamten Vorjahr 221 Verfahren wegen des Tatvorwurfs der Körperverletzung im Amt gegen 442 Beschuldigte bei der Staatsanwaltschaft Hamburg erfasst wurden, allerdings lediglich in einem Verfahren der Erlass eines Strafbefehls beantragt wurde. Will man es positiv ausdrücken, könnte man zu dem Schluss kommen, dass die meisten Verfahren unbegründet waren. Will man es negativ ausdrücken, müsste man bilanzieren, dass Verfahren viel zu selten wirklich aufgeklärt werden.
Genau zu diesem negativen Schluss kommen die Verfasser der Studie. Sie behaupten, dass es eine viel zu niedrige Anklagequote gegen die Polizei gebe. Grund hierfür seien strukturelle Besonderheiten in den Verfahren. Demnach ist es für Polizeibeamte und -beamtinnen oft schwierig, Kollegen und Kolleginnen zu belasten. Auch für die zuständige Staatsanwaltschaft erweise sich eine unvoreingenommene Herangehensweise an solche Verfahren angesichts der täglichen engen Zusammenarbeit als besondere Herausforderung.
Polizeipräsident Meyer fordert konsequenten Umgang mit Gewaltvorfällen
Polizeipräsident Meyer kennt die Studie. Gegenüber dem Abendblatt sagt er, dass die Hamburger Polizei bereits im vergangenen Jahr Kontakt mit den Autoren aufgenommen habe. „Unser Anspruch beim Thema Gewaltmonopol ist es immer, damit sensibel umzugehen. Das gilt auch hier bei einer Studie zu diesem Thema. Uns als Polizei ist klar, dass es bei allen hohen Vertrauenswerten auch Menschen gibt, die aufgrund negativer Erfahrungen mit der Polizei hier oder in ihren Heimatländern Vorbehalte und Misstrauen gegenüber der Polizei haben. Wir wollen auch für diese Gruppen da sein und am Vertrauen arbeiten“, sagt Meyer. „Dazu gehört ein transparenter und konsequenter Umgang mit Gewaltvorfällen, wofür wir bereits mit der Modernisierung unseres neuen Beschwerdemanagements und anderen Maßnahmen beitragen.“
Seit Jahresbeginn wurden in Hamburg 42 Ermittlungsverfahren gegen Beamte wegen Körperverletzung eingeleitet, fünf Verfahren davon wurden allerdings bereits wieder eingestellt. Noch nicht dazu gehört der Fall des Beamten, der am 1. Mai einen Demonstranten am Bahnhof Schlump schwer verletzt haben soll. Die Hamburger Staatsanwaltschaft bestätigte auf Abendblatt-Nachfrage, dass ein Verfahren noch gar nicht eingegangen sei. Gegen den Polizisten ermittelt allerdings das Dezernat Interne Ermittlungen. Dem Beamten droht mindestens ein Disziplinarverfahren.
Schockierendes Video vom 1. Mai macht schnell die Runde
Noch am Abend des 1. Mai machte ein Video von dem Vorfall die Runde, in dem zu sehen ist, wie der Beamte den Demonstranten mit dem Ellbogen voran gegen den Kopf springt und ihn damit zu Boden bringt. Gegenüber dem Nachrichtenportal „t-online“ sagte der Demonstrant später, dass er keine konkrete Erinnerung mehr an den Vorfall habe. „Meine erste Erinnerung ist dann wieder, wie ich auf der Intensivstation extubiert wurde.“ Auf Abendblatt-Nachfrage wollte sich der Demonstrant nicht noch einmal äußern.
Klar ist aber, dass der 19-Jährige viel Glück gehabt hat. Vorübergehend soll er sogar in Lebensgefahr geschwebt haben. Im Krankenhaus diagnostiziert wurden Schädel-Hirn-Trauma, retrograde Amnesie und ein Krampfanfall – als Folge des Sturzes auf den Hinterkopf. „Ich habe schon oft gesehen, wie die Polizei wahllos in Demonstrationen reinknüppelt“, sagte der betroffene Demonstrant später gegenüber „t-online“.
Derby: Ein Polizist schlägt einem St.-Pauli-„Fan“ auf den Kopf
Ein schwerer Vorwurf. Allerdings ist der Vorfall vom 1. Mai kein Einzelfall. Bundesweite Schlagzeilen hat auch ein Vorfall beim Stadtderby zwischen dem FC St. Pauli und dem HSV im vergangenen Oktober gemacht. Auch da gab es wieder ein Video, wieder wurde es schnell in den sozialen Netzwerken verbreitet. Diesmal zu sehen sind Bundespolizisten in dunkler Einsatzmontur, die einige St.-Pauli-Fans am Boden fixieren und auf sie einschlagen, in einem Fall mit dem Ellenbogen. Wieder auf den Kopf.
Was auf dem Video nicht zu sehen ist: Etwa 150 bis 200 meist maskierte St.-Pauli-„Fans“ hatten nach Polizeiangaben zuvor versucht, einem HSV-Fanmarsch in die Quere zu kommen. Das extrem harte Vorgehen der Bundespolizei werfe dennoch „die dringende Frage nach der Verhältnismäßigkeit“ auf, ließ der FC St. Pauli damals in einer Pressemitteilung verbreiten.
Problem mit Polizeigewalt? Ermittlungen gegen den Beamten dauern an
Eine Verurteilung hat es aber noch nicht gegeben. „Die Ermittlungen betreffend die Vorgänge beim Fußballspiel im Oktober 2022 dauern an“, ließ eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft wissen. Für Polizeipräsident Meyer steht unabhängig von den beiden Fällen fest: „Wir werden uns weiter mit den Ergebnissen dieser und anderer Studien befassen.“
Auch Innensenator Grote betont, dass seine Behörde „sehr sensibel“ mit derartigen Vorwürfen umgehe und die eigenen Mechanismen gestärkt habe. „Stichwort neue Beschwerdestelle, aber auch was wir im Bereich Aus- und Fortbildung tun oder auch an der Forschungsstelle für strategische Polizeiforschung.“ Nur gelesen hat Grote die Studie noch nicht.