Hamburg. SPD-Innensenator Andy Grote spricht im Abendblatt über jugendliche Migranten, No-go-Areas und ein mögliches Böllerverbot.

Die gezielten Angriffe auf Feuerwehrleute und Polizisten haben in der Silvesternacht eine neue Qualität erreicht – nicht die Zahl, die war stabil, aber die Brutalität, mit der Polizisten und vor allem Rettungskräfte angegangen wurden. Zwei Feuerwehrleute wurden bei Attacken mit Pyrotechnik und Vogelschreckmunition schwer verletzt. Die Polizei hat 22 Tatverdächtige ermittelt.

Innensenator Andy Grote (SPD) spricht über die Hintergründe der Täter, Migrationsbiografien und Konsequenzen, die jetzt anstehen. „Ich bin entschieden dafür, dass die vom Strafrecht zur Verfügung gestellten Tatbestände jedenfalls voll ausgeschöpft werden“, sagt Grote.

Herr Grote, Polizisten, Rettungskräfte und Feuerwehrleute sind in der Silvesternacht angegriffen und gezielt mit Pyrotechnik beschossen wurden. Polizeigewerkschaften sprechen von einer neuen Dimension der Gewalt. Tun Sie das als Innensenator auch?

Andy Grote: Leider sind Angriffe auf Einsatzkräfte – nicht nur, aber gerade auch zu Silvester – kein ganz neues Phänomen. Das Thema beschäftigt uns schon seit Längerem. Besonders schwer wiegen bei diesem Silvester aber die Angriffe auf Angehörige der freiwilligen Feuerwehr mit zum Teil sehr schweren Verletzungen. Das ist etwas sehr Gravierendes, das bewegt mich, treibt mich um. Wenn diejenigen, die in unser aller Auftrag als Gesellschaft anderen helfen, angegriffen werden, stellt das einen gesellschaftlichen Grundkonsens infrage. Den brauchen wir aber, wenn wir alle in Sicherheit zusammenleben wollen. Diese schweren Verletzungen – einer der Feuerwehrleute hat einen Metallsplitter ins Auge bekommen – machen uns dabei aufmerksam auf eine Fehlentwicklung, die nicht erst Silvester begonnen hat und die nicht nur zu Silvester ein Problem darstellt.

Auch wenn es in Berlin noch erheblich schlimmer zuging als in Hamburg: Die massiven Angriffe gegen Feuerwehrleute bei uns haben eine neue Dimension. Wer Retter mit Batterien von Feuerwerksraketen oder Vogelschreckmunition gezielt angreift, nimmt den Tod von Menschen billigend in Kauf. So hat es die Polizeigewerkschaft DPolG formuliert.

Grote: Diese Verletzungen der Feuerwehrleute haben eine neue Qualität. Es steht damit auch eine andere Qualität von Straftaten im Raum.

Wie lauten die Deliktvorwürfe? Geht es um Körperverletzung? Oder gar um ein versuchtes Tötungsdelikt?

Grote: Das muss die Staatsanwaltschaft bewerten. Ich bin entschieden dafür, dass die vom Strafrecht zur Verfügung gestellten Tatbestände jedenfalls voll ausgeschöpft werden.

In den sozialen Medien feiern sich Täter und werden dafür bejubelt, Feuerlöscher gegen die Windschutzscheibe von Feuerwehrautos zu schleudern. Was empfinden Sie als Innensenator, wenn Sie solche Bilder sehen?

Grote: Völlige Fassungslosigkeit. Da stimmt fundamental etwas mit dem Wertekompass nicht. Es fehlt das Bewusstsein dafür, worauf diese Gesellschaft aufgebaut ist. Wir brauchen Respekt für diejenigen, die für das Funktionieren dieser Gesellschaft sorgen. Und die – gerade wenn ehrenamtlich – brauchen unser aller Unterstützung und dürfen nicht angegriffen werden. Wer das tut, muss auch sehr klare und empfindliche Konsequenzen spüren.

Passiert das denn? Folgt bei kriminellen Übergriffen wie in der Silvesternacht die Strafe schnell genug auf die Tat?

Grote: Pädagogisch gesehen wäre es wünschenswert, wenn die Strafe direkt auf die Tat erfolgen würde. Aber im Rechtsstaat darf erst derjenige bestraft werden, dessen Schuld auch bewiesen ist. So ist das halt. Die Polizei ist in der Silvesternacht vielfach schnell, konsequent und erfolgreich eingeschritten. Polizeilicherseits laufen die Ermittlungsverfahren. Und ich würde mich nicht wundern, dass wenn es zu Verurteilungen kommt, die der eine oder andere vielleicht so nicht erwartet hat.

Welche Erkenntnisse haben Sie über die Täter aus der Silvesternacht?

Grote: Wir haben jetzt 22 Tatverdächtige identifiziert. Es sind sehr überwiegend junge Männer. Von den 22 haben 13 die deutsche Staatsangehörigkeit, die übrigen neun eine ausländische. Bei denen mit deutscher Staatsangehörigkeit wissen wir derzeit nicht, wie viele einen Migrationshintergrund haben.

Die Polizeigewerkschaften formulieren es scharf. Sie sprechen von „Gruppen junger Männer mit Migrationshintergrund, alkoholisiert und bewaffnet“. Man darf Menschen mit einer Einwanderungsgeschichte nicht unter Generalverdacht stellen – aber ist es nicht genauso richtig, solche Fehlentwicklungen ganz offen und klar anzusprechen?

Grote: Ja, wir stellen schon fest, dass das Thema Migrationsbiografie hier eine Rolle spielt. Wir machen es uns aber zu einfach, wenn wir das Problem reduzieren auf einen ganz bestimmten Teil der Gesellschaft.

Aber ist es nicht wichtig, Fehler und Probleme bei der Integration offen zu diskutieren, damit die Deutungshoheit nicht bei rechten Populisten liegt und diese die Geschehnisse der Nacht für ihre politischen Ziele missbrauchen?

Grote: Wir tun gut daran, uns die Lage sehr genau anzusehen und uns nicht von Eindrücken leiten zu lassen. Wir stellen fest, dass die Orte, an denen wir immer wieder Schwierigkeiten haben als Polizei oder Rettungskräfte, auch zu Silvester eine Rolle gespielt haben. Es ist nicht selten, dass wir dort auf junge Männer mit Migrationshintergrund treffen. Entscheidend ist immer das gesamte Setting, in dem sich die Jugendlichen da bewegen. Diese kommen häufig aus einem bestimmten sozialen Milieu oder einer bestimmten Wohnsituation. An manchen Orten ist der migrantische Anteil durchaus hoch. Wir müssen aber auch sehen, dass über 50 Prozent aller unter 18-jährigen in Hamburg einen Migrationshintergrund haben und das nicht gleichmäßig über die Stadt verteilt.

Einer dieser Orte ist der Stubbenhof in Neuwiedenthal. Feuerwehrleute beschreiben die Gegend als No-go-Area, als einen Ort, in dem sie regelmäßig bei Einsätzen attackiert werden. Silvester haben sich Polizei und Feuerwehr erst reingetraut, als genügend Kräfte der Bereitschaftspolizei angerückt sind. Entwickeln sich hierzulande, beispielsweise in Neuwiedenthal, Zustände wie in den französischen Banlieues?

Grote: Nein, unsere Einsatzkräfte gehen dort überall rein, wo sie gebraucht werden. Trotzdem gibt es diese Orte, an denen die Wahrscheinlichkeit, dass Einsatzkräfte in Konflikt geraten, besonders hoch sind. Und der Stubbenhof ist einer davon. Es gibt noch eine Reihe anderer. Dieses Silvester hat ein Schlaglicht darauf geworfen, es ist aber kein neues Phänomen. Wir müssen Silvester zum Anlass nehmen zu überprüfen, was wir in diesen Quartieren noch strukturell verbessern können. Es gibt Quartiere, in denen eine soziale Stabilisierung gelungen ist. Aber es gibt auch Orte, wo wir noch etwas zu tun haben.

Wie viele von diesen Hotspots, also problematische Quartiere, gibt es in Hamburg?

Grote: Es gibt immer eine Handvoll Orte in der Stadt, die wir aus polizeilicher Sicht zu dem Zeitpunkt als problematisch wahrnehmen. Das verändert sich auch durchaus. Problemlagen sind in ihrer Art, Intensität und Dauer dabei unterschiedlich.

Wer Polizisten und Rettungskräfte angreift, greift letztendlich den Rechtsstaat an. Ist das Motiv Hass auf diesen Staat?

Grote: Es gibt ein ziemlich breites Spektrum von Motiven. Man ist in einer Gruppe unterwegs, fühlt sich stark, jung, alkoholisiert. Es gibt einen Mangel an Respekt, die Autorität des Staates wird nicht anerkannt, das erfahren dann Vertreter des Staates, also Einsatzkräfte. Autoritäten werden genauso wenig anerkannt wie die Regeln dieser Gesellschaft. Die Bandbreite geht von Distanz über Ablehnung, weiter über Aggression hin zu Verachtung und Hass. Zum Teil ist es aber auch eine totale Verantwortungslosigkeit der Täter und der Glaube, man könne das machen, da die Regeln für einen nicht gelten und weil man eine niedrige Hemmschwelle zur Gewalt hat.

Welche Konsequenz ziehen Sie aus den Angriffen zu Silvester?

Grote: Wichtig ist eine effektive Strafverfolgung, aber auch eine Prüfung der Einsatzkonzepte, der Ausstattung der Einsatzkräfte und einer Möglichkeit erweiterter Feuerwerksverbotszonen. Wir werden darüber hinaus die Orte, an denen es besonders schwierige Einsatzbedingungen gegeben hat, erfassen und überprüfen: Sind das Orte, an denen wir auch vor Silvester Schwierigkeiten hatten? Hier müssen wir als Stadt noch bessere ortsbezogene Ansätze entwickeln und prüfen, ob es über die vorhandenen quartiersbezogenen Konzepte, über das Programm der inte­grierten Stadtteilentwicklung, über bestehenden Maßnahmen an Schulen hinaus weitere Instrumente gibt, um noch wirksamer gegensteuern zu können.

Aber was kann die Politik konkret tun, um in den Problemquartieren gegenzusteuern?

Grote: Wir brauchen starke integrative Systeme. Die hat Hamburg an vielen Stellen: zum Beispiel mit der besten Kita-Abdeckung bundesweit. Wir haben eine flächendeckende Ganztagsschulbetreuung. Wir haben eine hohe Erwerbsquote auch unter Migrantinnen und Migranten. Wir haben in den Quartieren mit besonderem Unterstützungsbedarf eine immer weiter ausgebaute starke soziale Infrastruktur. Wir haben integrationsstarke Sportvereine fast flächendeckend in der Stadt. Das alles hat zu einer sozialen Stabilisierung beigetragen. Trotzdem müssen wir feststellen, dass es immer noch Orte gibt, wo wir noch nicht gut genug sind und dass es Gruppen gibt, die wir noch nicht gut genug erreichen. Wir müssen das, was wir tun, verstärken und darin noch besser werden. Es gibt Menschen, die sich dieser Gesellschaft nicht zugehörig fühlen, die keine innere Bindung haben. Wir müssen alles stärken, was Bindungen erzeugt. Aber wir haben es natürlich auch mit einer schwierigen gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu tun, was das Thema Zusammenhalt und gesellschaftliche Bindungskräfte angeht.

Sie sagten, dass Sie als Konsequenz aus den Vorfällen bestimmte Gegenden genauer betrachten wollen. Wissen Sie nicht genug über die Milieus und die Ursachen der Gewalt, über die Motive der Täter?

Grote: Zu den konkreten Motivlagen der 22 Tatverdächtigen können wir noch nichts sagen. Generell wissen wir: Die Gewalt gegen Polizeikräfte nimmt zu. Das gesellschaftliche Klima ist insgesamt aggressiver, gereizter, respektloser, konfliktbereiter geworden. Und dann gibt es zwei Kon­stellationen. Die eine ist: Polizisten werden zu einem Konflikt gerufen – und werden dann Teil dieses Konfliktes. Die andere Konstellation ist: Gerade weil Sie Polizisten sind, werden sie zum Ziel von Aggressivität. Diese Ablehnung speist sich aus ganz unterschiedlichen Quellen. Das sind zum Beispiel die Delegitimierer oder Reichsbürger, um bewusst ein anderes Beispiel zu nennen, die in Abrede stellen, dass dieser Staat überhaupt das Recht hat, Regeln aufzustellen und sie durchzusetzen. Genauso gibt es bei einem harten linksradikalen Kern diese Verachtung gegenüber dem Staat. Aber es gibt eben auch diejenigen, die aufgrund einer Migrationsgeschichte keine Bindung zu Staat und Gesellschaft aufgebaut haben. Stattdessen bewegen sie sich in ihren eigenen Communitys, fühlen sich ihren Bezugsgruppen verbunden und verpflichtet. Diese Bildung von gesellschaftlichen Fragmenten und Gruppen, die sich in ihrer Werteorientierung auf sich selbst und nicht auf die Gesellschaft als Ganzes beziehen, stellt ein großes Problem dar.

Angriffe auf Einsatzkräfte "kein reines Silvesterphänomen"


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  • Haben wir dieser Entwicklung, die Sie gerade beschrieben haben, zu lange zugeschaut und die Probleme ignoriert?

    Grote: Es gibt eine zunehmende Wahrnehmung dieses Problems. Aber noch keine allgemeine Entschlossenheit, dem etwas entgegenzusetzen. Die braucht es aber, weil der Staat, dessen Autorität infrage gestellt wird, nicht allein dafür sorgen kann, dass es wieder anders wird. Natürlich muss der Staat selbst alle Kräfte stärken, die die Bindung, den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern. Und gleichzeitig braucht es aber auch eine positive Identifizierung mit unserem demokratischen Staat und dieser Gesellschaft. Es muss die Bereitschaft geben, aus der eigenen Blase rauszugehen und anzuerkennen, dass die Perspektiven anderer auch legitim sind. Das ist Demokratie. Sie lebt vom Kompromiss, davon, dass man respektvoll miteinander umgeht, dass man anerkennt, dass die eigenen Wünsche und Interessen nicht immer der Maßstab aller Dinge sind, dass man sich einordnen muss, wenn eine Gesamtheit funktionieren soll.

    Das hört sich gut an – aber wie soll das funktionieren?

    Grote: Wir müssen uns als Gesellschaft attraktiv machen. Wir müssen eine Gemeinschaft sein, der man sich zugehörig fühlen will. Wir müssen ein positives Gesellschaftsbild transportieren und das auch vorleben. Am Ende möchte niemand sein Leben lang Teil einer Gruppe sein, die sich ständig aggressiv mit den Angehörigen anderer Gruppen auseinandersetzt. Wenn wir es schaffen, den Wunsch nach Zugehörigkeit, den die allermeisten haben, wieder auf eine größere Gemeinschaft zu beziehen und nicht nur auf kleine Gruppen – dann kommen wir einen entscheidenden Schritt weiter. Das kann uns gelingen. Denn wir sind eine sehr empathische und zugewandte Gesellschaft. Aber wir müssen zum Beispiel auch zugewanderten Menschen das Gefühl geben, dass wir sie hier haben wollen. Gleichzeitig ist es auch die Aufgabe eines jeden Einzelnen, sich zu einem Teil dieser Gesellschaft zu machen, sich einzubringen.

    Im rot-rot-grünen Berliner Senat hat die Politik entschieden, den Vermerk über einen Migrationshintergrund bei Tatverdächtigen abzuschaffen. Ist es aus Ihrer Sicht nicht wichtig zu wissen, welcher Täter welchen Hintergrund hat, um die Ursachen bekämpfen zu können?

    Grote: Ja, sicher.

    Das heißt, in Hamburg gibt es keine ähnlichen Überlegungen?

    Grote: Nein.

    Berlin schreibt Polizisten auch vor, wie sie sich ausdrücken sollen, welche Begriffe nicht mehr verwendet werden sollen ...

    Grote: Wir glauben nicht, dass unsere Polizisten Nachhilfe im Sprachgebrauch brauchen.

    Sprechen wir zum Schluss über von Politikern geforderte Böllerverbote zu Silvester. Die lösen vielleicht akut ein Problem, aber sie bekämpfen keine der Ursachen der Angriffe auf Rettungskräfte. Wir wollen Sie das nächste Silvester entspannen?

    Grote: Das sind zwei Dinge, die sind unabhängig voneinander. Wir schicken auch nächstes Jahr wieder Einsatzkräfte in alle Teile der Stadt und müssen überlegen, wie wir niedrigschwelliges Einschreiten und eine erfolgreiche, effektive und konsequente Strafverfolgung sicherstellen. Ein Gefühl, dass Straftaten folgenlos bleiben, darf nicht entstehen. Außerdem müssen wir prüfen, ob wir unsere Einsatzkräfte noch besser schützen können. Da gibt es die Idee der Dashcams, also in Fahrzeugen angebrachte Kameras, die das Geschehen filmen. Dann müssen wir uns die Einsatzkonzepte anschauen: Wie können wir die Einsatzkonzepte von Polizei und Feuerwehr noch besser verzahnen und insbesondere die Feuerwehr bei ihren Einsätzen noch besser schützen? Und es gibt das Thema Feuerwerksverbotszonen. Die hatten wir jetzt auf dem Rathausmarkt und rund um die Binnenalster eingerichtet. Wir werden nach dieser Silvesternacht überprüfen, ob wir die Gebiete noch ausweiten.