Hamburg. An den Ausfallstraßen sollten bis zu 120.000 Wohnungen entstehen. Doch das Beispiel Sülldorfer Landstraße zeigt Probleme auf.

Es ist das entscheidende Instrument der rot-grünen Koalition für den Wohnungsbau: das Magistralenkonzept. Entlang von (mindestens) elf Ausfallstraßen in Hamburg wurde ein theoretisches Potenzial von 120.000 Wohnungen ausgemacht. Doch bevor der Masterplan überhaupt vorliegt, brodelt es schon: Es geht um den Grundkonflikt, dass mehr Platz für Wohnungsbau benötigt wird, aber auch mehr Platz für den Ausbau von Rad- und Fußwegen sowie Busspuren.

Die CDU sieht wegen der aktuellen Verkehrsplanungen den Wohnungsbau gefährdet – und fürchtet Enteignungen, um Platz für Busspuren, Rad- und Gehwege zu schaffen. „Ein Vertreter der Verkehrsbehörde hat uns im Planungsausschuss eröffnet, dass die Verkehrsflächen aller Magistralen um bis zu zehn Meter verbreitert werden sollen“, sagt Sven Hielscher, CDU-Fraktionschef in der Altonaer Bezirksversammlung.

Verkehr in Hamburg: Mobilitätswende benötigt Räume

Die benötigten Flächen sollten gekauft werden – falls dies scheitere, seien Enteignungen denkbar. Auf Fragen zur Enteignung ist die Verkehrsbehörde auf Abendblatt-Anfrage nicht eingegangen. „Für eine erfolgreiche Mobilitätswende wird auch entsprechender Raum in der Verkehrsfläche benötigt. Unter anderem für breite, sichere und komfortable Fuß- und Radwege“, heißt es in der Antwort.

Die Altonaer Fraktionschef Sven Hielscher (CDU).
Die Altonaer Fraktionschef Sven Hielscher (CDU). © Funke Foto Services | Roland Magunia

Im konkreten Fall geht es um den Bebauungsplan „Sülldorf 23“. Dort, zwischen Sülldorfer Landstraße und S-Bahn-Trasse (Teil der Magistrale 1), sollen in einem ersten Schritt 300 bis 400 Wohnungen entstehen – Investoren haben die Grundstücke bereits gekauft – später weitere rund 500. „Die Verkehrsbehörde hat nun ein Konzept vorgelegt, das eine Verbreiterung der Verkehrsflächen um rund 7,50 Meter vorsieht. Damit wäre das vorgesehene Bebauungskonzept nicht mehr umsetzbar“, sagt Hielscher.

Strate über Enteignungen: „Keiner will das“

Der B-Plan liege auf Eis, das Vorhaben mit jahrelangem Vorlauf werde kaputt gemacht. Neben jeweils zwei Fahrbahnen je Fahrtrichtung für den Autoverkehr (gesamt 13,50 Meter) sind beidseitig je drei Meter für Geh- und Radwege vorgesehen, außerdem auf beiden Seiten ein 3,50 Meter breiter „Multifunktionsstreifen“, unter anderem für Bäume und Bushaltebuchten.

Hielschers SPD-Kollege Henrik Strate schließt Enteignungen in diesem Zusammenhang aus: „Keiner will das.“ Allerdings gebe es einen „Zielkonflikt“ zwischen Wohnungsbau und Verkehrsplanung, und die Verkehrsbehörde mauere. Die Investoren seien davon überrascht worden. „Die Verkehrsbehörde und der Bezirk müssen sich nun zügig einigen“, fordert er. Das Bauvorhaben an der Sülldorfer Landstraße werde noch dadurch verkompliziert, dass die Bahn ebenfalls mehr Fläche haben wolle, um einen verbesserten Lärmschutz zu installieren.

„Hamburg braucht mehr Wohnungen"

Altona ist bei dem Magistralenkonzept Vorreiter. Die B-Pläne Sülldorf 23 und 24 wurden bereits 2018 als Modellprojekt entwickelt und sollten anderen Bezirken als Blaupause dienen. „Doch seitdem geht es kaum voran“, sagt Anke Frieling, stadtentwicklungspolitische Sprecherin der CDU in der Bürgerschaft. „Hamburg braucht mehr Wohnungen, aber der Senat leistet sich an der Sülldorfer Landstraße leider ohne Not einen Machtkampf. Denn der Verkehrssenator braucht offenbar Flächen für die Mobilitätswende, die eigentlich für Wohnungsbau vorgesehen waren.“

Der Konflikt in Sülldorf könnte nur ein Vorgeschmack dessen sein, was an den anderen Magistralen an Konflikten droht. Zwar bestreitet der Senat in seiner Antwort auf eine Kleine Anfrage Frielings, dass ein Verkehrskonzept wie in Sülldorf grundsätzlich auf alle Magistralen angewendet werden solle. Aber für diverse B-Plan-Gebiete – etwa in Lurup, Stellingen und Schnelsen – habe die Verkehrsbehörde bereits Flächenbedarf angemeldet. Hielscher glaubt denn auch nicht an einen „Einzelfall“ in Sülldorf. „Hier gibt es nur einen ersten Versuch, so etwas zu machen.“

Anlieger können beruhigt sein

Darauf deutet auch die Antwort der Verkehrsbehörde auf Anfrage des Abendblatts hin: „Zusätzliche Flächen seien insbesondere dort notwendig, „wo bisherige Fuß- und Radwege deutlich zu schmal sind, eine Umwandlung von Fahrstreifen zugunsten des Fuß- und Radverkehrs nicht möglich ist und durch neues Baurecht eine deutliche städtebauliche Verdichtung ermöglicht wird.“ Und: „Dies gilt für die konkrete Situation im B-Plan Sülldorf 23, aber auch darüber hinaus. Die Abstimmungsgespräche zwischen den beteiligten Behörden und dem Bezirk laufen hierzu aktuell.“

Martina Koeppen, Stadtentwicklungs-Expertin der SPD, betont den Bestandsschutz für die Anlieger: „Es werden keine Radwege durch Vorgärten gebaut.“ Für die Magistralenentwicklung brauche es „eine ruhige Hand sowie schlüssige Konzepte“. Es gelte in jedem Einzelfall zu prüfen, was vor Ort konkret sinnvoll und machbar sei: „Eine Konkurrenz von Verkehrsentwicklung und Wohnungsbau darf es nicht geben.“

Ausbau der S-Bahn-Linie hat Priorität

Auch die Grünen betonen, dass vor Ort gemeinsam mit den Bürgern „maßgeschneiderte Lösungen“ gefunden werden müssten. Olaf Duge, stadtentwicklungspolitischer Sprecher der Grünen: „An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Verkehrswende und die Magistralen-Entwicklung zusammen gedacht werden müssen. Letztere ist eine sehr langfristig angelegte Strategie über mehrere Jahrzehnte hinweg.“ Und was ist mit Enteignungen?

„Es darf grundsätzlich kein Grundeigentümer enteignet werden“, sagt Duge, schränkt aber ein: „Absolute Ausnahmefälle sind nur bei schwierigen Grundstückssituationen denkbar.“ Im Zusammenhang mit der Magis­trale Sülldorfer Landstraße betont Duge noch, dass der zweigleisige Ausbau der S-Bahn-Linie bis nach Wedel „besonders hohe Priorität“ habe. Genau deswegen versteht die CDU-Abgeordnete Frieling die Planungen der Verkehrsbehörde nicht, denn mit dem S-Bahn-Ausbau könnten die Verkehrsprobleme „auf Jahrzehnte“ gelöst werden.

Wohnungsbau am Sülldorfer Kirchenweg Priorität

„Es ist daher besonders bizarr, gerade die Sülldorfer Landstraße für diese Pars-pro-toto-Auseinandersetzung zu nutzen: Die Straße ist vierspurig mit Parkmöglichkeiten am Rand und gerade mal zu den Stoßzeiten mit etwas höherer Frequenz befahren.“

Zwischen der Brücke beim S-Bahnhof Iserbrook und der Kreuzung Sülldorfer Kirchenweg seien die Gehwege bereits breit und wenig benutzt. Zudem gebe es Radwege. Für die CDU habe der Wohnungsbau hier eindeutig Priorität. Innerhalb der Koalition und zwischen Verkehrs- und Stadtentwicklungsbehörde scheint diese Frage noch nicht ganz so klar.