Hamburg. Dirk Kienscherf, Chef der SPD-Bürgerschaftsfraktion, spricht über Corona, Wahlziele und die Stadtentwicklung.

Seit 2018 ist Dirk Kienscherf Vorsitzender der SPD-Bürgerschaftsfraktion – und damit einer der einflussreichsten Hamburger Politiker. Im Sommerinterview des Abendblatts spricht der 55-Jährige über die Rolle der Bürgerschaft in der Corona-Krise, Impfen als „Bürgerpflicht“ und darüber, wie Hamburg die „Herkulesaufgabe“ bewältigen kann, vor die der nötige klimagerechte Umbau sie stellt.

Hamburger Abendblatt: Herr Kienscherf, die Corona-Pandemie war bisher eindeutig die Stunde der Exekutive. Haben die Parlamente, auch die Hamburgische Bürgerschaft, sich in den vergangenen 16 Monaten den Schneid abkaufen lassen?

Dirk Kienscherf: Nein. Wir haben sehr intensiv in der Bürgerschaft und in den Fachausschüssen darüber diskutiert. Die Fraktionen haben bei der Beratung der nächsten Schritte der Pandemiebekämpfung sehr intensiv gestritten und mitgearbeitet.

Beraten und diskutiert sicher, aber die Bürgerschaft war an der Entstehung der Eindämmungsverordnungen nicht beteiligt.

Kienscherf: Wir haben ein Pandemiegesetz vorgelegt, das die Rechte des Parlaments gestärkt hat. Die Bürgerschaft war jederzeit in der Lage, einen Alternativentwurf vorzulegen. Es hat etliche Änderungsvorschläge der Opposition zu einzelnen Punkten gegeben, aber die große Linie, die der Senat eingeschlagen hat, war und ist richtig. Das hat selbst die CDU gesagt.

Hat die Arbeit der Bürgerschaft durch die Einschränkungen ihrer Arbeit gelitten?

Kienscherf: Nein, unsere Arbeit hat sich, wie im Berufsleben insgesamt, anders organisieren müssen. In manchen Bereichen ist der Austausch sogar intensiver geworden. Wir haben die Ausschusssitzungen digital durchgeführt und eine Reihe neuer digitaler Beratungsformate etabliert. Es gibt sogar mehr Beratung als zu Präsenzzeiten. Der Austausch in unseren mehrstündigen Fraktionssitzungen ist noch intensiver geworden.

Wann halten Sie es für möglich, dass die Bürgerschaft für Sitzungen aus dem Großen Festsaal in das Plenum zurückkehrt?

Kienscherf: Ich hoffe, dass das in der ersten Herbsthälfte der Fall sein wird.

CDU-Generalsekretär Ziemiak hat gefordert, alle Beschränkungen müssten fallen, sobald allen Menschen ein Impfangebot gemacht wurde. Wie sehen Sie das?

Kienscherf: Wir müssen in der Tat demnächst darüber reden, dass Beschränkungen wegfallen. Wir wollen, dass sich die Menschen impfen lassen. Impfungen sind der beste Weg, um schwere Erkrankungen zu vermeiden. Wir können die Grundrechtseinschränkungen nur so lange aufrechterhalten, wie sie notwendig sind. Wenn wir sehr viele Geimpfte haben, müssen die Beschränkungen fallen. Das ist auch ein Anreiz für diejenigen, die sich noch überlegen, ob sie sich impfen lassen.

Der Bürgermeister hat einen Lockdown für Ungeimpfte für den Fall einer vierten Welle ins Gespräch gebracht. Wie sehen Sie das?

Kienscherf: Es wird zu Lockerungen für diejenigen kommen, die geimpft sind. Die anderen haben dabei das Nachsehen. Wir denken zum Beispiel über Zugangsbeschränkungen zu Veranstaltungen nach, die dann nur für Ungeimpfte gelten. Es muss jedem klar sein, dass er seiner Pflicht nachkommen muss. Und Impfen ist Bürgerpflicht. Nur so schaffen wir die Herdenimmunität. Eine besondere Thematik haben wir bei Kindern und Jugendlichen. Diese dürfen natürlich nicht benachteiligt werden, wenn es für sie keine Impfempfehlung gibt.

An welche Veranstaltungen denken Sie?

Kienscherf: Zum Beispiel an Theater, Musicals oder Sportveranstaltungen. Voraussetzung für den Besuch ist dann, dass man geimpft oder genesen ist.

Was kann die Politik darüber hinaus tun, wenn sich nur 65 oder 70 Prozent der Menschen impfen lassen wollen – und so die Gefahr einer vierten Welle und weiterer Mutationen bestehen bleibt? Soll es eine Art Belohnungsgeld für Impfwillige geben?

Kienscherf: Ich weiß nicht, ob es das bringt. Dass Menschen beim Impfen beispielsweise an einer Verlosung teilnehmen und eine Kreuzfahrt gewinnen können, finde ich in diesem Zusammenhang absurd. Das zieht das ernste Thema ins Lächerliche. Wir müssen weiter über die Gefahren des Virus aufklären und darauf hinweisen, dass der Herbst die schwierige und anspruchsvolle Zeit werden wird.

Sie setzen sich für einen Gedenkort für die Corona-Toten ein. Gibt es schon konkrete Überlegungen? Wie ist der Planungsstand? Was stellen Sie sich konkret vor, und wo soll der Gedenkort sein?

Kienscherf: Wir haben einen Bürgerschaftsantrag erarbeitet, den wir jetzt mit den demokratischen Fraktionen abstimmen wollen. Dann wird es darum gehen, mit den wesentlichen gesellschaftlichen Gruppen und den Religionsgemeinschaften zu beraten, wie ein solcher Ort aussehen kann. Ich könnte mir vorstellen, dass wir das auf einem großen Friedhof realisieren, denn es soll ja ein Ort der Ruhe sein. Es fehlt solch ein Ankerplatz. Viele Menschen konnten sich nicht richtig von ihren Angehörigen verabschieden. Auch Menschen, die im Krankenhaus arbeiten, haben viel Leid erfahren. Es wäre gut, wenn wir den Gedenkort im nächsten Jahr realisieren können.

Was sind die zentralen Probleme, die die rot-grüne Koalition bis 2025 lösen will?

Kienscherf: Es geht darum, die Industrie- und Wirtschaftsmetropole Hamburg mit ihren ganz unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen in Richtung Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu transformieren. Das ist eine Herkulesaufgabe. Das spielt beim Thema Mobilität eine große Rolle, aber ebenso beim Thema Wohnen. Wir müssen eine klimaneutrale Quartiersentwicklung hinbekommen und gleichzeitig mehr Wohnungen bauen. Und dann müssen wir es schaffen, dass der größte Industriestandort in Deutschland mit Energie versorgt wird. Rot-Grün will das alles mit der Wirtschaft zusammen machen, es muss konkret und bezahlbar sein. Wir wollen weniger Symbolpolitik.

Ein ungelöstes Problem ist der Verkehr. Die Zahl der Pkw wächst schneller als die der Einwohner. Bei den Staus kehren wir zum Vor-Corona-Niveau zurück – allen Reden von der Verkehrswende zum Trotz. Muss die Politik radikalere Entscheidungen fällen?

Kienscherf: Die wichtigen Infrastrukturmaßnahmen wie der Bau von U 5 oder S 4 laufen ja jetzt an, wirken aber erst mittel- oder langfristig. Seit 1990 haben die Mobilitätsbedarfe jedes Einzelnen deutlich zugenommen. Da gibt es im Güter- wie im Personenverkehr einen Zuwachs um 60 Prozent. Zwar gibt es einen Umstieg vom ÖPNV auf das Fahrrad – das ist gut. Aber auch der Autoverkehr wächst, wir werden jedoch keine neuen Straßen bauen können. Wir alle werden uns daran gewöhnen müssen, mit dem Thema Auto noch viel zurückhaltender umzugehen. Was auf jeden Fall funktionieren muss, ist der Wirtschaftsverkehr. Auch Handels- und Handwerkskammer sagen inzwischen, dass wir den privaten Autoverkehr dort, wo es möglich ist, zurückfahren müssen. Da spielen attraktive HVV-Tickets und Verbindungen sowie Angebotsverdichtungen eine große Rolle.

Oder braucht man doch eine City-Maut?

Kienscherf: Die City ist nicht unser Problem. Hier haben wir eine völlig andere Lage als noch vor fünf Jahren. Wir reden jetzt mit allen Beteiligten über die autoarme Innenstadt. Früher haben Grundeigentümer scharf protestiert, wenn ein paar Parkplätze weggefallen sind. Heute wollen dieselben Leute den Autoverkehr aus den Straßen herausnehmen, weil sie mit den Flächen etwas anfangen wollen. Das wird sich in anderen Stadtteilen fortsetzen. Trotzdem muss die Innenstadt weiterhin mit dem Auto erreichbar sein.

Mehr Autos brauchen mehr Platz. Sollte man mehr Quartiersparken einführen?

Kienscherf: Ja, das machen wir. Wir rollen das Bewohnerparken immer stärker um die Alster herum aus. Damit ist eine viel stärkere Kontrolle verbunden. Wir müssen Carsharing weiter vorantreiben. In einigen Stadtteilen wie Eimsbüttel gibt es hierfür schon eine Bereitschaft. Bei jungen Menschen ist das Verhältnis zum Auto ohnehin anders. Im erweiterten Innenstadtbereich geht es neben ÖPNV und Rad immer mehr um Carsharing. Wer zuzieht, wo Platz begrenzt ist, oder wer sich dort ein neues Auto kaufen will, dem raten wir, sich zu überlegen, ob nicht Carsharing der richtige Weg ist.

Sieben Großstädte, darunter Hannover und Freiburg, plädieren für flächendeckendes Tempo 30 in weiten Teilen der Städte – um Verkehr effizienter und klimaschonender zu gestalten. Was halten Sie davon?

Kienscherf: Das ist mehr ein Symbolthema. Fakt ist: Hamburg ist bereits eine Stadt mit sehr vielen Tempo-30-Bereichen. Wir wollen keinen konfrontativen Kurs, sondern möglichst viele mitnehmen. Es wird weitere Tempo-30-Zonen geben. Wir sind ja jetzt dabei, das nächtliche Tempo 30 auszubauen. Andererseits finde ich, dass man auf einigen Strecken durchaus weiterhin Tempo 50 zulassen kann.

Wie zufrieden sind Sie mit der Politik des grünen Verkehrssenators Anjes Tjarks?

Kienscherf: Die Zusammenarbeit ist sehr gut. Er führt die wichtigen Themen fort, die wir angegangen sind. Das sind unter anderem die Schnellbahnprojekte, der Ausbau der Busverkehre und die autoarme Innenstadt. Ärgerlich sind die vielen Staus im Süden Hamburgs. Da ist unsere Erwartung an Herrn Tjarks wie früher an seine Vorgänger, dass die Einrichtung von Baustellen besser geplant wird.

Wie wollen Sie die Klimaziele erreichen?

Kienscherf: Wir müssen unser Klimaprogramm mit mehr als 400 Maßnahmen jetzt noch mal verschärfen. Viele Zielzahlen können wir in Metropolen aber nur erreichen, wenn der Bund endlich liefert und darüber hinaus für die Länder zusätzliche Förderprogramme auflegt. Die E-Mobilität entwickelt sich in Hamburg sehr gut. Auf dem Weg in Richtung Klimaneutralität im Bereich Wärme und Strom kommen wir gut voran. Die große Herausforderung wird der Gebäudesektor. Aus meiner Sicht kann es nicht darum gehen, jedes Haus mit noch mehr Kunststoff einzukleiden. Der Quartiersansatz ist meiner Ansicht nach zukunftsfähig.

Was bedeutet das?

Kienscherf: Wir müssen uns zwar die Gebäude ansehen, aber auch, wie in den Quartieren die Mobilität und die Energieversorgung funktionieren. Wenn es um CO2-Einsparung geht, ist der Mix entscheidend. Bei einer klimaneutralen Energieerzeugung brauche ich keine zusätzliche 20-Zentimeter-Kunststoffdämmung mehr.

Was ist mit dem Hafen?

Kienscherf: Der Hafen ist und bleibt äußerst wichtig. Er will klimaneutral werden. Wir unterstützen das und werden für rund 40 Millionen Euro Landstromanlagen für Kreuzfahrt- und Containerschiffe installieren. Auch in Rotterdam und Antwerpen ist Klimaschutz ein wichtiges Thema. Die Häfen der Nordrange arbeiten in diesem Punkt zusammen, damit es keine Politik der geringsten Auflagen gibt. Der Hafen wird sich wandeln, aber so, dass er weiterhin wettbewerbsfähig ist.

Der Zustand der Innenstadt hat sich durch Corona weiter verschlechtert. Es gibt viel Leerstand. Haben Sie eine zündende Idee, um eine gute Trendwende hinzubekommen?

Kienscherf: Es ist der Wunsch vieler Geschäftsleute, den Verkehrsversuch der Umleitung des Busverkehrs von der Mönckeberg- in die Steinstraße bis Mai nächsten Jahres zu verlängern. Das unterstützen wir. Der Versuch soll zu normalen Bedingungen laufen, und die haben wir jetzt in Corona-Zeiten nicht. Spannend ist dabei die Frage, wie die Mönckebergstraße in Zukunft gestaltet werden soll, wenn die Umleitung des Verkehrs ein Erfolg ist.

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Wie stellen Sie sich das vor?

Kienscherf: Es ist sehr herausfordernd, diesen großen Straßenraum ansprechend zu füllen. Denkbar wäre aus meiner Sicht eine flexible Nutzung als eine Art Markt der Möglichkeiten. So könnte man um Weihnachten herum die Mönckebergstraße anders bespielen als im Sommer oder Herbst. Bauliche Veränderungen halte ich für schwierig. Entscheidend wird sein, was die Hamburgerinnen und Hamburger sagen. Daher werden wir eine breite Bürgerbeteiligung durchführen.

Ihr Koalitionspartner will die Innenstadt „retten“. Steht es so schlimm um die City?

Kienscherf: Ich habe festgestellt, dass sich die Stimmung bei den Beteiligten verändert hat. Geschäftsleute und Grundeigentümer haben das Gefühl, dass sich die Politik um sie kümmert. Es gibt zwar auch Leerstand, aber angesichts des Potenzials der Innenstadt sind wir sicher, dass wir das relativ schnell wieder füllen. Die Innenstadt wird sich verändern. So wird es Stores geben, die nur ein limitiertes Angebot haben und zeitlich begrenzt sind. Die Verbindung zwischen vor Ort und online wird stärker werden. Für Untergangsstimmung sehe ich keinen Anlass.

Was halten Sie von der wieder aufgeflammten Idee, dass Hamburgs künftiges Naturkundemuseum in das Gebäude von Kaufhof an der Mönckebergstraße zieht und die City damit um eine Attraktion reicher wäre?

Kienscherf: Es ist alles eine Frage des Preises und des Konzeptes. Das ist zweifellos ein interessanter Standort, aber der Eigentümer muss ein interessantes finanzielles Angebot machen.

Wie sieht es mit Wohnungsbau in der Innenstadt aus? Jetzt leben 2000 Menschen in Alt- und Neustadt, früher 80.000. Anjes Tjarks forderte vor einem Jahr, 25.000 Menschen in der City unterzubringen.

Kienscherf: Das halte ich kurzfristig für unrealistisch. Wir gehen Schritt für Schritt vor. Es geht nicht darum, irgendwelche Luxuswohnungen in die City zu setzen. Wir brauchen mehr Vielfalt, und das wollen wir zum Beispiel mit dem Projekt des Ersatzbaus für das Parkhaus Gröningerstraße erreichen. Solche Projekte sind ein wichtiger Bestandteil, mehr Leben in die Innenstadt zu bekommen. In den sogenannten B- und C-Lagen, wo man nicht täglich entlanggeht, gibt es noch ganz viel Potenzial.

Was ist das Wahlziel für Ihre Partei bei der Bundestagswahl?

Kienscherf: Wir wollen stärkste Kraft in Hamburg werden. Und es muss unser Anspruch als Hamburg-Partei sein, alle sechs Wahlkreise zu gewinnen.