Hamburg. Das Unbehagen der Abgeordneten über die Quasi-Zuschauerrolle wächst. Nun gibt es Vorschläge – und ein Vorbild. Die Woche im Rathaus.

Wenn es noch eines symbolträchtigen Bildes für die Dominanz der Exekutive in Zeiten der Corona-Pandemie bedurft hätte, hier war es: Am frühen Mittwochabend trat Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) im Phönixsaal des Rathauses staatstragend und ernst vor Kameras und Mikrofone der Medien, neben sich eine mannsgroße Hamburger Landesflagge, so viel Patriotismus in der Krise musste sein.

Tschentscher verkündete die neuesten, weitreichenden Beschlüsse der kurz zuvor beendeten Videokonferenz der Ministerpräsidenten der Länder mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) – unter anderem die Schließung von Theatern, Konzerthallen, Museen, Restaurants und Kneipen. Gleichzeitig debattierte die Bürgerschaft nur wenige Meter entfernt im Großen Festsaal – die Stimmen drangen herüber – die Abschaffung der Deputationen. Der Gegensatz konnte kaum größer sein: Ja, auch das Thema Deputationen mag wichtig sein, aber die Botschaft war deutlich: Die Musik spielte wie fast immer seit Beginn der Corona-Pandemie nicht bei der Bürgerschaft, der ersten Gewalt im Stadtstaat, sondern bei der zweiten Gewalt, dem Senat.

Bürgerschaft: Unbehagen über Quasi-Zuschauerrolle wächst

Nun lässt sich kaum bestreiten, dass die Herausforderung durch das neuartige Virus vielfach schnelle administrative Entscheidungen erfordert, um dessen Ausbreitung möglichst effektiv einzudämmen, wie die aktuelle dynamische Entwicklung der Infektionszahlen gerade wieder belegt. Andererseits ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass die Parlamente bei den zum Teil schwerwiegenden Grundrechtseingriffen, die etwa Betriebsschließungen darstellen, regelhaft außen vor bleiben.

Das wachsende Unbehagen der Abgeordneten über ihre Quasi-Zuschauerrolle wurde auch in der Bürgerschaftsdebatte über Tschentschers Regierungserklärung zur Corona-Lage am Mittwoch deutlich. Die Aussprache fand statt, bevor sich die Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin auf den teilweisen Lockdown verständigt hatten. Tschentscher hatte das Parlament nach seiner Rede verlassen müssen, um an den Beratungen mit Merkel teilzunehmen.

Alexander Wolf (AfD) verstieg sich zum Vergleich mit „Ermächtigungsgesetz“

Linken-Fraktionschefin Cansu Özdemir zeigte zwar Verständnis dafür, dass es zu Beginn der Pandemie kaum möglich gewesen sei, „die Zivilgesellschaft und das Parlament“ in die Entscheidungen einzubeziehen. „Aber jetzt die Bürgerschaft nicht einzubeziehen, ist nicht nur unnötig, es ist auch undemokratisch. Es reicht mit den Alleingängen und einsamen Entscheidungen des Senats“ sagte Özdemir.

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„Wie bisher sollen die Entscheidungen per Rechtsverordnung umgesetzt werden, ohne Parlamentsbeschlüsse. Das ist angesichts der einschneidenden Grundrechtseinschränkungen inakzeptabel und schmälert die ohnehin bröckelnde Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung“, sagte auch Anna von Treuenfels-Frowein (FDP). AfD-Fraktionschef Alexander Wolf verstieg sich in provokativer Absicht gar zu dem Vergleich, das Infektionsschutzgesetz, das das Handeln per Rechtsverordnung erlaubt, sei ein „Ermächtigungsgesetz“. Mit dem sogenannten Gesetz hatte sich der Reichstag am 24. März 1933 selbst entmachtet und die gesetzgebende Gewalt faktisch auf Hitler übertragen.

Auch SPD und Grüne drängten auf stärkere Beteiligung der Bürgerschaft

Bemerkenswert ist, dass auch die Regierungsfraktionen von SPD und Grünen auf eine stärkere Beteiligung der Bürgerschaft bei Pandemie-Entscheidungen drängten – wenn auch vorsichtiger. „Je länger die Pandemie dauert, desto lauter und angebrachter wird die Stimme der Parlamente, eingebunden zu werden“, sagte Ksenija Bekeris, die Vize- Fraktionschefin der SPD. „Wir benötigen Zeit für öffentliche Debatten über das Für und Wider von Maßnahmen. Der wichtigste Ort dafür ist das Parlament. Aus diesem Grund werden wir uns als rot-grüne Regierungsfraktionen dafür einsetzen, dass die parlamentarische Beteiligung in dieser Krisenzeit stärker in den Vordergrund rückt“, sagte Grünen-Fraktionschefin Jennifer Jasberg.

Ähnliche Debatten laufen auch in anderen Landesparlamenten und nicht zuletzt im Bundestag. Dabei kann sich Rot-Grün auf einen prominenten Gewährsmann in Berlin berufen, dessen Autorität unbestritten ist, auch wenn er einer anderen Partei angehört: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hatte bereits Mitte Oktober angemahnt, „dass der Bundestag seine Rolle als Gesetzgeber und öffentliches Forum deutlich machen muss, um den Eindruck zu vermeiden, Pandemiebekämpfung sei ausschließlich Sache von Exekutive und Judikative“.

Corona-Infektionen in Deutschland und weltweit

Baden-Württemberg könnte als Vorbild eine wichtige Rolle spielen

Und Schäuble hatte gleich juristische Expertise parat. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages äußerte in einem Gutachten Bedenken, „ob die äußerst intensiven und breit wirkenden Grundrechtseingriffe im Rahmen der Corona-Pandemie auf eine bloße Generalklausel gestützt werden können“. Diese Generalklausel des Infektionsschutzgesetzes erlaubt das Regieren per Rechtsverordnungen. „Das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip verpflichten den parlamentarischen Gesetzgeber, wesentliche Entscheidungen selbst zu treffen und nicht der Verwaltung zu überlassen. Je intensiver und breiter wirkend der Grundrechtseingriff ist, desto höher muss die parlamentarische Regelungsdichte sein“, schreibt der Wissenschaftliche Dienst.

SPD und Grüne forschen derzeit danach, wie andere Landesparlamente mit dem Thema umgehen. Dabei könnte Baden-Württemberg eine wichtige Rolle spielen. Der dortige Landtag hat bereits am 22. Juli ein „Gesetz über den Erlass infektionsschützender Maßnahmen“ beschlossen. Zweck des Gesetzes sei es, heißt es dort, „die Weiterverbreitung übertragbarer Krankheiten durch zielgerichtete Maßnahmen zu verhindern und deren Folgen zu bekämpfen sowie die Einbeziehung des Parlaments in wesentliche Fragen der Grundrechtsausübung sicherzustellen“.

Es bleibt dabei, dass die Stuttgarter Landesregierung per Rechtsverordnung Gebote und Verbote zur Bekämpfung der Pandemie erlassen kann. Allerdings müssen die Verordnungen „zeitlich angemessen“ begrenzt sein. „Überschreitet die Gültigkeitsdauer einer Verordnung zwei Monate, bedarf die Rechtsverordnung für die Fortgeltung der Gültigkeit der Zustimmung des Landtags in seiner nächsten regulären Sitzung“, heißt es in dem Gesetz.

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Rot-Grün berät über stärkere Einbindung des Parlaments

Eine weitere wichtige Regelung ist die schnelle Information der Abgeordneten. „Rechtsverordnungen … sowie deren Verlängerung, Änderung oder Aufhebung sind dem Landtag unverzüglich, spätestens 24 Stunden nach der Beschlussfassung, zuzuleiten“, lautet die gesetzliche Bestimmung. Ähnliche Vorschläge zur Beteiligung der Parlamente hat auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages vorgelegt.

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In Hamburg gibt es weder ein vergleichbares Gesetz noch feste Informationsregeln. Eingespielt hat sich mittlerweile, dass die Senatoren die jeweiligen Ausschüsse der Bürgerschaft über aktuelle Veränderungen informieren – allerdings mit entsprechendem Zeitverzug. Die regelmäßigen Informationen der Fraktionsvorsitzenden durch den Ersten Bürgermeister über die Pandemie-Lage, die es zunächst gab, sind inzwischen eingestellt worden, was die Opposition in der Debatte am Mittwoch kritisierte.

Vorschlag eines „Corona-Rats" fand wenig rot-grüne Zustimmung

SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf kann sich vorstellen, dass der Senat wie die Landesregierung von Baden-Württemberg verpflichtet wird, seine Corona-Verordnungen der Bürgerschaft offiziell zur Kenntnis zu geben. Aus Sicht der SPD ist auch eine Überprüfung der Rechtsverordnungen durch das Parlament vorstellbar, allerdings wohl eher in Zeiträumen von drei bis vier als zwei Monaten. „Die Abstimmungsprozesse mit der SPD zu diesen Themen laufen seit zwei bis drei Wochen“, sagte Grünen-Fraktionschefin Jasberg.

Auf wenig rot-grüne Zustimmung trifft der am Mittwoch von Linken-Fraktionschefin Özdemir wiederholte Vorschlag eines „Corona-Rats“, in dem neben Senat und Parteien auch Vertreter aus Wissenschaft, Gewerkschaften sowie Arbeitgeber vertreten wären. „Ein neues Gremium halten wir nicht für zielführend“, sagte Jennifer Jasberg.