Hamburg. Hauchdünn verpasst die FDP den Einzug in die Bürgerschaft. Spitzenkandidatin Anna von Treuenfels holt Direktmandat.
Den schwersten Gang hatte Michael Kruse am Morgen danach. Während Spitzenkandidatin Anna von Treuenfels mit Katja Suding, Landesvorsitzende der FDP, nach Berlin zum Gespräch mit dem Bundesvorstand reiste, fuhr Kruse in die Fraktionsgeschäftsstelle am Alten Fischmarkt, um mit den Mitarbeitern zu sprechen. „Die Stimmung war sehr gedrückt“, sagte Kruse.
Jede Wahl teilt unerbittlich in Verlierer und Gewinner. Hoffnungen auf ein Mandat erfüllen sich – oder zerschellen an der Wählergunst. Doch für manche im Politikbetrieb geht es auch um die wirtschaftliche Existenz. Ein paar Hundert Stimmen mehr oder weniger können Arbeitsplätze sichern oder vernichten. Und während sich die Mitarbeiter der Hamburger AfD-Fraktion noch in der Nacht zum Montag freuen konnten, dass es für sie entgegen der ersten Prognose doch weitergehen wird, war ihren zwölf Kolleginnen und Kollegen der FDP am Montagabend klar, dass sie sich einen neuen Arbeitsplatz suchen müssen. 201.162 Stimmen bedeuteten 4,9 Prozent, 1582 Stimmen zu wenig.
Die Fraktion der Liberalen wird abgewickelt
Und so wird die Fraktion der Liberalen nun abgewickelt. Büromöbel, Computer und Drucker werden verkauft, die von der Bürgerschaftsverwaltung angemieteten Räume müssen in ein paar Wochen geräumt werden. Die selbst ernannte Mitte lebt nicht mehr. Zumindest nicht in der Bürgerschaft.
Nun gehört politischer Überlebenskampf zur DNA der Liberalen. Immer wieder musste die FDP um den Einzug in ein Parlament bangen, mehr als einmal klingelten die Medien nach Niederlagen das Totenglöckchen für die Partei der Granden Hans-Dietrich Genscher und Walter Scheel. In Hamburg scheiterte sie 2004 (2,8 Prozent) und 2008 (4,8 Prozent) sogar zweimal in Folge an der Fünfprozenthürde. Erst Katja Suding reanimierte das liberale Herz, 2011 gelang mit 6,7 Prozent die gefeierte Rückkehr in die Bürgerschaft. 2014 galt der Patient wieder als klinisch tot, Demoskopen sahen die Liberalen in Hamburg nur noch bei zwei Prozent. Doch im Februar 2015 übertraf die FDP mit 7,4 Prozent sogar ihr Ergebnis von 2011.
Emotionale Achterbahnfahrten
Wer es mit der FDP hält, muss emotionale Achterbahnfahrten aushalten können, keine Frage. Und doch war diese Wahl selbst für noch so stressresistente liberale Seelen kaum auszuhalten. Sonntag, 18 Uhr, Gasthaus Altes Mädchen in der Schanze: Das TV-Signal streikt, per Zuruf wird die 18-Uhr-Prognose bekannt. Spitzenkandidatin Anna von Treuenfels entert zu „Anna, Anna“-Sprechchören die Bühne und ruft im Blitzlichtgewitter: „Wir lassen uns nicht unterkriegen. Wir werden es schaffen, da bin ich mir ganz sicher.“ In den Stunden danach scheinen die gelben Fünf-Prozent-Balken bei den Hochrechnungen wie zementiert. „Es wird reichen“, sagen die meisten im Saal.
Doch je mehr Wahllokale ausgezählt werden, umso näher rücken die Liberalen der politischen Todeszone von 4,9 Prozent. Jeder im Alten Mädchen weiß nun, dass am Ende ein paar Hundert Stimmen entscheiden können. „Die Gedanken sind frei“, stimmen einige Liberale an, als nur noch die Ergebnisse von fünf der insgesamt 1884 Wahllokale fehlen. Und dann steht plötzlich wieder die 5,0 auf der Homepage des Wahlamtes, 121 Stimmen haben die FDP über die Fünfprozenthürde getragen. „Das war eine Zitterpartie. Aber wir sind Optimisten, wir haben es geschafft“, frohlockt Anna von Treuenfels. Ihr Co-Fraktionschef Kruse twittert „Fünf gewinnt.“
Katastrophale Nachricht
Doch plötzlich macht eine für die FDP katastrophale Nachricht die Runde. In einem Wahllokal in Langenhorn haben die Liberalen ein absurd gutes Ergebnis erzielt, die Grünen dagegen extrem schlecht abgeschnitten. Kruse, der sich als Geschäftsführer einer Firma, die statistische Verfahren für klinische Studien entwickelt, mit Zahlen auskennt, ahnt das Ungemach – dem dortigen Wahlvorstand könnte eine Verwechslung unterlaufen sein. „Ohne diese Stimmen wird es für uns wahrscheinlich nicht reichen“, sagt Kruse noch vor Mitternacht. Am Morgen bestätigt der Wahlleiter die Zählpanne (Bericht rechts), mit einem Schlag büßt die FDP mehr als 400 Stimmen ein.
Am nächsten Tag zählen die Wahlhelfer ein zweites Mal. Es geht jetzt auch um Stimmzettel, die im ersten Durchgang wegen formaler Fehler nicht gewertet wurden. Sie können „geheilt“ werden, wie es im Wahlrecht heißt. Stimmzettel, bei denen es fünf Kreuze für eine Landesliste und fünf Kreuze für einen Kandidaten derselben Partei gab, werden jetzt der jeweiligen Partei zugeschlagen. Zumindest theoretisch ist das Wunder von Hamburg also noch möglich, entsprechend zurückhaltend gibt sich Michael Kruse beim Abendblatt-Termin am Mittag in einem Café in Rathausnähe. Der 36-Jährige neigt ohnehin nicht zu Gefühlsausbrüchen, überparteilich wird er als kluger Kopf vor allem bei Wirtschaftsthemen geschätzt. Eines steht für Kruse fest: „Wenn es für uns nicht reichen sollte, ist die Opposition in der Bürgerschaft entscheidend geschwächt.“
Die Enttäuschung sitzt tief
Kruse greift zur Cola light, es wird ja wieder eine lange Nacht mit einer Präsidiumssitzung am Abend. Natürlich sitzt die Enttäuschung nach diesem Marathon-Wahlkampf tief. Wie seine Parteifreunde hat er noch unmittelbar vor Schließung der Wahllokale mobilisiert, Bekannte angerufen, ja wählen zu gehen. Und nun entscheidet ein Zehntel Prozentpunkt. „Aber wer in die Politik geht, weiß, dass so etwas passieren kann“, sagt er. Auch deshalb habe er seine kleine Firma weitergeführt, trotz der immensen Belastung als Fraktionschef.
Kruse wird also auch ohne Mandat ausgelastet sein, zumal er mit seiner Lebensgefährtin gerade ein Haus in Sasel baut. Viel schlimmer, sagt er dann, sei es doch für die Mitarbeiter der Fraktion, ihre Verträge sind an die Legislaturperioden gebunden. Dabei könnten sie doch am allerwenigsten für das Drama: „Die haben unglaublich gekämpft.“ Kruse will sich nun kümmern, dass die Kolleginnen und Kollegen allesamt möglichst schnell wieder einen guten Job bekommen, zwei haben sich ohnehin schon anderweitig orientiert.
Wähler wechselten zur SPD und den Grünen
Als Mann der Zahlen hat er sich intensiv mit den Wählerwanderungen beschäftigt. Und hier zeigt sich, dass die am Wahlabend oft geäußerte Hypothese, dass FDP-Wähler in Scharen zur SPD übergelaufen seien, um eine Grüne-Bürgermeisterin zu verhindern, nicht wirklich sticht. Laut Analyse zog es zwar 3000 Liberale zur SPD. Aber 4000 Wähler gab die FDP an die Grünen ab.
„Unser Problem war, dass sowohl SPD wie Grüne unsere Wähler angezogen haben“, sagt Kruse. Tschentscher habe mit wirtschaftsfreundlichen Positionen und seinem souveränen Auftreten im liberalen Lager gepunktet, Katharina Fegebank mit ihrer weltoffenen Art.
Und Thüringen? „Wir standen vorher in den Umfragen auch bei fünf Prozent“, sagt Kruse. Aber natürlich sei Erfurt, wo der Liberale Thomas Kemmerich mit den Stimmen von AfD und CDU zum Ministerpräsidenten gekürt wurde, eine Hypothek gewesen.
FDP hat Comeback-Qualitäten
Am Abend dann Präsidiumssitzung, Anna von Treuenfels und Katja Suding sind zurück aus der Hauptstadt. „Ich wäre gern mit einem besseren Ergebnis nach Berlin gefahren“, sagt Anna von Treuenfels dem Abendblatt. Aber der Bundesvorstand habe „wie eine Eins“ zu ihr gestanden. Blankenese, ihre Heimat auch. Denn in ihrem Wahlkreis holte die Juristin, die 2008 mit der Initiative „Wir wollen lernen“ gegen die Primarschulreform kämpfte, ein Direktmandat. Als fraktionslose Abgeordnete wird sie also der Bürgerschaft weiter angehören.
Für Carl Jarchow, den ehemaligen Vorstandschef des HSV und seit neun Jahren für die FDP in der Bürgerschaft, kann dies nicht wirklich ein Trost sein: „Nach einem solch engagierten Wahlkampf so knapp zu scheitern ist ganz bitter.“ Man müsse jetzt alles dafür tun, um in fünf Jahren wieder in die Bürgerschaft zurückzukehren. Für dieses Ziel will er sich als Vorsitzender der FDP Altona weiter engagieren, auch wenn für ihn persönlich das Kapitel Bürgerschaft geschlossen sei. Die Operation Rückkehr werde hart, prognostiziert Jarchow: „Fünf Jahre außerhalb der Bürgerschaft können lang werden.“ Andererseits habe seine Partei ja ihre Comeback-Qualitäten oft genug bewiesen.