Hamburg. Vertrauensverlust in Politik beklagt. Spahn: „Klima-Hysterie, Migrations-Apokalypse, da ist nicht mehr viel Kompromiss möglich.“

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat vier Tage vor der Bürgerschaftswahl in Hamburg den Verfall der politischen Sitten beklagt. Bei einer Veranstaltung des Bürgerschafts-Vizepräsidenten Dietrich Wersich in der Facharztklinik in Eppendorf sagte Spahn: „Es gibt einen massiven Vertrauensverlust. Die Parteien der demokratischen Mitte sind nicht in der Lage, eine Mehrheit zu organisieren.“ Spahn sieht die Ursache nicht in einer schlechten wirtschaftlichen Situation. „Wir können Hartz IV verdreifachen, die Rente verdoppeln, das wird nicht helfen.“

Er hält den Verlust einer Streitkultur für den wichtigsten Grund. „Klima-Hysterie, Migrations-Apokalypse – da ist nicht mehr viel Kompromiss möglich. Zu einer guten Debatte gehört auch die Vermutung, der andere könnte recht haben.“

Jens Spahn ermahnt seine Mitbewerber um den CDU-Vorsitz

Spahn äußerte sich nicht direkt zu seiner Kandidatur um den Parteivorsitz der CDU als Nachfolger von Annegret Kramp-Karrenbauer und damit womöglich als Kanzlerkandidat der Union für 2021. Er ermahnte aber seine Mitkonkurrenten Friedrich Merz, Armin Laschet und Norbert Röttgen: „Bei allen Debatten, die wir führen, sollten wir nicht vergessen, dass wir auch noch regieren.“

Spahn zeigte sich in einer anekdotischen, zum Teil selbstkritischen Rede als der Unions-Mann, der der nächste Bundeskanzler werden möchte. Er berichtete von Ärzten und Krankenhausmanagern, die ihm quasi täglich Verbesserungsvorschläge machten. So übel stehen die Chancen nicht für den Konservativen aus dem nordwestlichen Münsterland. Wobei: Die Herkunft könnte zum Problem werden. Auch Armin Laschet, Norbert Röttgen und Friedrich Merz stammen aus Nordrhein-Westfalen; ihr möglicher Kanzlerkandidaten-Konkurrent Markus Söder aus Bayern. Aber sie alle haben nur zu verlieren.

Wie sähe es denn aus, wenn Laschet als starker CDU-Ministerpräsident von seiner Partei nicht das Vertrauen bekäme, Parteivorsitzender und damit Kanzlerkandidat zu werden? Oder Merz, der bereits einmal gegen Annegret Kramp-Karrenbauer verlor?

Gesundheitsministerium: Neue Gesetze fast im Monatstakt

Und die Kandidatur ist nach derzeitiger Umfrage-Lage für einen CDU-Kandidaten die Fahrkarte erster Klasse ins Kanzleramt. Spahn könnte nur gewinnen. Und Menschen, die ihn gut kennen, sagen seit Langem: Er sitzt auf gepackten Koffern und sollte längst ins Wirtschaftsministerium wechseln, wo Peter Altmaier nach Ansicht vieler Christdemokraten keine gute Figur abgibt. Sollte Spahn CDU-Vorsitzender werden, wäre dieser „Move“ denkbar. Und wenn nicht, dann auch. Man könnte ihn mit dem attraktiveren Posten zunächst ruhigstellen.

Stehaufmännchen Spahn wird weiter zu einer Top-Position anlaufen. Er kam „zu kurz“, als Angela Merkel schon 2013 einen Gesundheitsminister suchte. Ihr Getreuer Hermann Gröhe, ebenfalls aus NRW, wurde es dann, weil er mit einem Ministerposten versorgt werden sollte. Gesundheits-Novize Gröhe machte einen Crashkurs in Sachen Gesundheitspolitik. Experte Spahn ballte die Faust in der Tasche. Seit Jahren macht er in der Gesundheitspolitik die Ochsentour. Er kennt quasi jeden und alles. Gastgeber Dietrich Wersich hat ihn nach eigenen Angaben schon vor zehn Jahren kennengelernt.

Seit Amtsantritt 2018 hat Spahn fast im Monatstakt neue Gesetze erlassen. Vor allem bei der Digitalisierung macht er Druck. Apps auf Rezept, Smartphone statt Gesundheitskarte: Spahn räumt mit Versäumnissen seiner Vorgänger auf. Doch vielen fehlt die Sorgfalt bei diesem Tempo. In Hamburg versicherte der Minister: Das Patientenwohl stehe bei allem an erster Stelle. Gleichzeitig warnte Spahn davor, dass Google und Amazon Gesundheitsdaten absaugten, während man in Deutschland Misstrauen gegenüber den Digitalisierungsplänen der Regierung hege.

Hamburger Ärzte kritisierten Spahns Digitalisierungsstrategie

Aber: Dass zum Beispiel alle Daten der gesetzlich Versicherten künftig zu Forschungszwecken weitergegeben werden sollen, finden niedergelassene Ärzte aus Hamburg und Norddeutschland skandalös. Sie schauen extrem kritisch auf Spahn. Auch die Krankenhäuser bemängeln die überbordende Bürokratie, die den Ärzten die Zeit für die Patienten nehme oder bei Fehlern sogar zu Honorarkürzungen führe, wie die Geschäftsführerin der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft, Claudia Brase sagte.

Dem Minister war zuletzt das Fettabsaugen als Kassenleistung wichtiger als möglicherweise viel drängendere Themen. Spahn berief einen Pharma-Manager zum Chef der Gematik, die Gesellschaft, die die elektronische Gesundheitskarte nach 15 Jahren noch immer nicht ins Rollen brachte. Das verärgerte unter anderem den Verband der Krankenkassen. Andererseits haben manche Kassen-Manager Spahns Digitalisierungs-Welle geradezu herbeigesehnt. Spahns Gastgeber Wersich hielt sich zurück, sagte aber mit Blick auf seine Nachfolgerin, Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD): „Wir brauchen wieder eine Politik, die weniger drangsaliert.“