Hamburg. Die junge Linken-Spitzenkandidatin ist beliebter als ihre Partei. Warum ihr Auftreten ihr so viele Stimmen verschafft.

Im Parteiprogramm der Linken ist ja schon lange nicht mehr von Revolution die Rede, alles dreht sich um Reform und Wandel, der olle Marx kommt auf den 80 Seiten nur noch verschämte zweimal vor, und das passt womöglich ganz gut zu Cansu Özdemir.

Die Linken-Spitzenkandidatin für die Bürgerschaftswahl ist weniger durch das Studium von „Kapital“ oder Kommunistischem Manifest geprägt – umso mehr von gegen Ausgrenzung aufbegehrenden Rappern wie Tupac Shakur und durch ihre Kindheit im Osdorfer Born.

Ihre als sozialer Brennpunkt geltende Hochhaussiedlung tief im Westen der Stadt hätten sie früher immer „West Coast­“ genannt, erzählt die 31-Jährige – in Anlehnung an die Fehde der Ost-Küsten- gegen die West-Küsten-Rapper in den USA der 1990er. Politisiert hat sich Özdemir aber nicht nur an den Hamburger Verhältnissen, sondern auch durch ihre kurdischstämmige Familie.

Linken-Spitzenkandidatin Özdemir ist beliebter als ihre Partei

„Bei uns wurde im Wohnzimmer immer viel über Politik gesprochen, und meine Eltern haben mich oft mit auf Demos genommen“, berichtet Özdemir. Nachhaltig schockiert vom sogenannten „Ehrenmord“ an der kurdischstämmigen Berlinerin Hatun Sürücü im Jahr 2005 habe sie sich immer intensiver mit Frauenpolitik befasst.

Für Die Linke sei sie auf einer Reise als Übersetzerin mit den Bürgerschafts- und Bundestagsabgeordneten Norbert Hackbusch und Jan van Aken in die Kurdengebiete geworben worden. Mit 22 Jahren zog Özdemir 2011 als eine der jüngsten Abgeordneten überhaupt in die Bürgerschaft ein – weil sie viele Personenstimmen aus der Einwanderer-Community bekam, rutschte sie von Platz neun auf Platz zwei der Linken-Liste. Seit 2015 ist sie mit Sabine Boed­dinghaus Fraktionsvorsitzende und bei dieser Wahl nun alleinige Nummer 1.

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    Wegen Unterstützung der verbotenen PKK verurteilt

    Fragt man Özdemir, was linke Politik heute für sie ausmache, dann sagt sie: „Menschen zu sehen, die von anderen nicht mehr gesehen werden“. Um Obdachlose hat sie sich in den letzten Jahren intensiv gekümmert. Aber auch der Kampf gegen rechten und islamistischen Extremismus und die Erdogan-Regierung stehen im Zentrum ihrer politischen Arbeit. Damit macht man sich nicht nur Freunde. Während sie von Rechten kaum bedroht werde, bekomme sie öfter Morddrohungen von türkischen Nationalisten, wenn sie sich kritisch zur Politik der Erdogan-Regierung äußere, sagt Özdemir.

    Sie solle sich nicht in die Türkei trauen, sonst werde man ihren „Kopf schlachten“, habe einmal jemand geschrieben. Oder es säßen plötzlich mal Vertreter der nationalistischen „Grauen Wölfe“ im Auto vor ihrem Büro, um sie einzuschüchtern. Das gelinge zwar nicht – und doch habe sie „Sicherheit in ihren Alltag eingebaut“. Sie arbeite nicht mehr bis nachts im Büro, drehe sich öfter um und melde sich vor öffentlichen Auftritten bei der örtlichen Polizeiwache.

    Kleinkrieg mit der Erdogan-Regierung – Özdemirs Kampf für unabhängiges Kurdistan

    Bei dem Kleinkrieg mit der Erdogan-Regierung spielt Özdemirs Kampf für ein unabhängiges Kurdistan eine Rolle – der sie auch in Konflikt mit der deutschen Justiz und auf das Radar des Verfassungsschutzes gebracht hat. Weil sie das Foto einer Fahne der verbotenen türkischen Untergrundorganisation PKK bei Twitter teilte, wurde sie kürzlich auf Bewährung zu einer Geldstrafe in Höhe von 4500 Euro und einer Spende an eine gemeinnützige Organisation verurteilt. Das Urteil ist laut Özdemir nicht rechtskräftig, weil die Staatsanwaltschaft es für zu milde halte und die nächste In­stanz angerufen habe.

    All das hat ihrer Beliebtheit bei den Hamburgern offenbar nicht geschadet. Nach Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) und der grünen Spitzenkandidatin Katharina Fegebank ist Özdemir ausweislich einer NDR-Umfrage von Anfang Februar die drittbeliebteste Politikerin der Stadt. Beim Vergleich der Spitzenkandidaten liegt sie weit vor FDP-Frontfrau Anna von Treuenfels und CDU-Kandidat Marcus Weinberg. Das könnte auch damit zusammenhängen, dass sie ihre Anliegen selten aggressiv, aber stets beharrlich vorträgt – ohne sich dabei in den Vordergrund zu drängen.

    Wahlkampf auch in Poliklinik auf der Veddel

    So ist es auch an diesem Nachmittag, an dem sie mit Parteifreunden soziale und kulturelle Einrichtungen auf der Veddel und in Wilhelmsburg besucht. Erste Station ist die Poliklinik auf der Veddel, ein Stadtteilgesundheitszen­trum, in dem sich Ärzte und Psychologen um Anwohner kümmern, bei denen es oft nicht allein um konkrete Erkrankungen, sondern auch um schwierige Lebensverhältnisse geht.

    Dass Armut krank mache, zeige die Statistik der Lebenserwartung, heißt es in einem Film der Poliklinik, der Özdemir gezeigt wird: Auf der Veddel liege die im Schnitt bei 72 Jahren, in Poppenbüttel dagegen bei 87.

    Als sich die Leiterinnen nach mehr städtischer Unterstützung für ihre Arbeit erkundigen, lässt Özdemir Gesundheitspolitiker Deniz Celik den Vortritt bei den Antworten. Groß ist die Empörung der Poliklinik-Mitarbeiter über die Cum-Ex-Geschäfte, bei denen Banken den Staat um viele Milliarden betrogen und Hamburg versäumt haben soll, 47 Millionen Euro zurückzuverlangen.

    Die Linken-Spitzenkandidatin vermeidet allzu scharfe Töne

    „Was könnte man für die Menschen, die Hilfe brauchen, mit diesem Geld alles machen!“, seufzt eine der Gastgeberinnen. Und: „Wie kann es sein, dass das alles kaum jemanden aufregt?“ Das Thema ist natürlich Wasser auf die Mühlen der Linken, aber Özdemir vermeidet allzu scharfe Töne.

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    Bei der nächsten Station, dem Westend in Wilhelmsburg, geht es ebenfalls um die Versorgung von Menschen, die nicht auf der Sonnenseite der Stadt leben. Der Nachbarschaftstreff bietet Beratung zu Wohnungsproblemen oder Schulden, und eine Ärztin behandelt hier Menschen ohne Krankenversicherung. Inmitten ihrer Parteifreunde hört Özdemir geduldig zu und stellt Fragen zur Herkunft der Patienten oder zu Übersetzerinnen.

    Özdemir überlässt dem „Bodo“ offenbar gern die Show

    Eine halbe Stunde später und 500 Meter weiter ändern sich die Verhältnisse radikal. Als die Fraktionschefin und ihre Mitstreiter zu Fuß vor dem Wilhelmsburger Kulturzentrum Honigfabrik eintreffen, dreht sich dort alles um Bodo Ramelow. Der mit Stimmen von FDP, CDU und AfD ersetzte frühere Thüringer Ministerpräsident erklärt inmitten eines Pulks von Journalisten und Kameras die Lage im Osten und der Welt – und Özdemir bleibt abseits der Mikrofone stehen und raucht schweigend eine Zigarette.

    Dass Ramelow eigentlich als ihr Wahlkampfhelfer gekommen ist, spielt jetzt keine Rolle, Özdemir überlässt dem „Bodo“ offenbar ganz gern die Show. Später ist es auch der Ex-Ministerpräsident, der die meisten Fragen stellt, als sich der Linken-Tross die Autowerkstatt und die Konzertbühne zeigen und das Konzept der Honigfabrik erklären lässt. Immerhin gibt Özdemir am Rande Interviews und lässt sich mit dem prominenten Ost-Genossen fotografieren.

    Hanseatischer Wahlkampf auch auf kurdischen Hochzeiten

    Natürlich setzt die Frontfrau der Linken auch bei dieser Wahl stark auf Stimmen von kurdischstämmigen Hamburgern und Erdogan-Gegnern mit türkischen Wurzeln. Deswegen macht sie auch mal Wahlkampf auf kurdischen Hochzeiten. „Da erreicht man in einer Nacht 1000 Menschen“, erzählt sie vor der Honigfabrik. „Die erreicht man niemals mit zwei Stunden Infostand.“

    Bei solchen Gelegenheiten werde sie oft gefragt, wie eigentlich das Hamburger Wahlrecht funktioniere. Keinesfalls aber will sich Özdemir auf das Thema Migration reduzieren lassen. Die Linke sei so etwas wie „das soziale Gewissen“ der ganzen Stadt, sagt sie. Auch wenn es keine Option für eine Regierungsbeteiligung gebe, könne eine starke Linke dafür sorgen, dass Hamburg sozialer werde.

    Özdemirs Sozialismus mit Tupac und Coelho

    „Man braucht einen langen Atem“, weiß Özdemir. Das gilt nicht nur in der Politik, in die die Osdorferin mehr als 60 Stunden pro Woche investiert. Es gilt auch im Studium. Zum Beispiel, wenn man eine Statistikklausur verhauen hat, wie es ihr gerade passiert ist – und diese für das Studium der Politikwissenschaft demnächst wiederholen muss. Um bei alldem gelassen zu bleiben, helfen unpolitische Auszeiten mit Malteserhund Carlos an Nord- und Ostsee – schließlich liebe sie das Meer, so Özdemir.

    Geduld habe sie durch Lieblingsautor Paulo Coelho gelernt, sagt die jüngste Hamburger Spitzenkandidatin. Für Beharrlichkeit in ihren linken Zielen sorgt womöglich auch Lieblings-Rapper Tupac. „Wir kommen nirgendwohin, wenn wir nicht teilen“, heißt es in dessen Hit „Changes“ sinngemäß. „Wir müssen beginnen, die Welt zu verändern.“