Hamburg. Sechs Bezirksabgeordnete treten aus und wollen zur SPD. Einer fordert den Rücktritt des Vorstands, und auch die SPD mischt mit.
Obwohl sie die Wahlen zur Bezirksversammlung Hamburg-Mitte im Mai klar gewonnen haben und sogar stärkste Fraktion vor der SPD geworden sind, werden die Grünen voraussichtlich nicht an einer Koalition im Bezirk beteiligt sein. Stattdessen wird es wohl eine Zusammenarbeit von SPD, CDU und möglicherweise der FDP geben.
Der Kreisvorstand der CDU hat jetzt Verhandlungen mit der SPD beschlossen, die durch den Übertritt von sechs der 16 Grünen-Abgeordneten nun mit 20 Abgeordneten stärkste Fraktion werden dürfte. Zusammen mit den sechs CDU-Abgeordneten käme man zwar bereits auf 26 der 51 Sitze. Weil diese Mehrheit aber nur hauchdünn wäre, gibt es Überlegungen, die FDP mit ihren drei Abgeordneten an der Koalition zu beteiligten.
Damit dürfte der jetzige SPD-Bezirksamtsleiter Falko Droßmann weiter im Amt bleiben und nicht von einem oder einer Grünen abgelöst werden.
Die Hintergründe der Schlammschlacht bei den Grünen
Hintergrund der Verwerfungen in Mitte sind die massiven Streitigkeiten bei den Grünen nach der Wahl im Mai, die zur Spaltung der Bezirksfraktion geführt hatten – und die am Mittwoch mit dem Parteiaustritt von sechs Abgeordneten einen neuen Höhepunkt fanden.
Nach der Wahl hatte die Parteiführung die Verfassungstreue von zwei der gewählten Abgeordneten angezweifelt. Einem der beiden Männer warf sie vor, bei Facebook für eine vom Verfassungsschutz beobachtete islamistische Organisation geworben oder gespendet zu haben. Dem anderen wurde vorgehalten, er habe öffentlich Bemerkungen gemacht, die an seiner Verfassungstreue zweifeln ließen. Beide haben die Vorwürfe stets energisch zurückgewiesen.
Als die beiden Männer nicht zur konstituierenden Sitzung der Fraktion geladen und zugleich gebeten wurden, die Vorwürfe mit dem Landesvorstand zu klären, solidarisierten sich vier andere Abgeordnete mit ihnen und blieben mehrheitlich der konstituierenden Sitzung fern. So schildert es die damalige Grünen-Kreischefin Sonja Lattwesen bei Facebook. Mitte Juni äußerte sich Parteichefin Anna Gallina im Abendblatt erstmals öffentlich zu den Vorgängen und den Vorwürfen gegen die beiden Männer – allerdings ohne deren Namen zu nennen.
Wenig später gründeten die sechs Abtrünnigen eine neue Fraktion „Grüne 2“, woraufhin die Landesspitze der Grünen ein Parteiausschlussverfahren gegen sie einleitete. Dieses ist nach den nun erklärten Parteiaustritten jetzt hinfällig.
Ausgetretene Grünen-Abgeordnete wehren sich gegen Vorwürfe
Die Vorwürfe gegen Fatih Can Karışmaz, dem die Grünen aus ihrer Sicht verwerfliche Bemerkungen unterstellt hatten, hat die Grünen-Führung bereits selbst wieder fallengelassen. Mit ihm hatte es im Juli ein Gespräch gegeben. Die Vorwürfe gegen den Abgeordneten Shafi Sediqi wegen dessen Facebook-Postings dagegen seien nicht geklärt worden, heißt es aus der Grünen-Spitze.
Während manche Betroffene den Grünen nun antimuslimische oder rassistische Motive unterstellen, ist von der anderen Seite zu hören, es sei bei dem Streit womöglich auch um die Vergabe wichtiger Ämter in der neuen Bezirksversammlung und der Fraktion gegangen.
Die Verletzungen sind offenbar groß, ebenso die Aufregung. Es sei der Grünen-„Landesvorstand, der gegen das Grundgesetz verstößt, denn diese Hexenjagd verletzte grundgesetzlich geschützte Rechte wie Persönlichkeitsrechte, die rechtsstaatliche Unschuldsvermutung, das Verbot von religiöser Diskriminierung und die Unabhängigkeit von Mandatsträgern“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der sechs aus der grünen Partei ausgetretenen Abgeordneten Meryem Çelikkol, Kay Dassow, Shafi Sediqi, Fatih Can Karışmaz, Nicole Kistenbrügger und Miriam Natur.
Und weiter: „Diese Doppelmoral ist unerträglich, trotz nunmehr ausgeräumter Vorwürfe wartet Herr Karışmaz noch immer vergeblich auf eine öffentliche Rehabilitierung. Der diskriminierende und vorverurteilende Umgang mit Parteimitgliedern mit migrantischer Geschichte, und mit denen, die sich mit ihnen solidarisieren, wird vom Landesvorstand undifferenziert kultiviert und widerspricht ganz klar dem Grünen-Grundkonsens.“
SPD-Fraktionschef fordert Entschuldigung der Grünen-Chefs
Nach ihrem Austritt bei den Grünen wollen die sechs nun offenbar in die SPD und in deren Bezirksfraktion eintreten. SPD-Fraktionschef Tobias Piekatz, der die sechs neuen Fraktionsmitglieder wohl bald willkommen heißen und damit wieder die stärkste Fraktion führen wird, erhebt mittlerweile ebenfalls schwere Vorwürfe gegen die Grünen-Parteiführung.
„Die Grünen-Chefin Anna Gallina hat Abgeordnete öffentlich des Extremismus beschuldigt, mit dem Ergebnis, dass einer zusammenbricht, seinen Job verliert und bis heute arbeitslos ist“, sagte Piekatz dem Abendblatt. „Katharina Fegebank hat sich zu dem ganzen Verfahren nie geäußert und bei den Abgeordneten hat sich niemand entschuldigt. Es ist schon erstaunlich, wie die Grünen mit ihren Abgeordneten umgehen“, so der SPD-Mitte-Fraktionschef. „Führung sieht anders aus. Wir werden jetzt Gespräche führen und dann werden die Gremien entscheiden.“
Grünen-Vize Martin Bill dagegen sagte am Mittwoch, der Parteiaustritt der sechs Mitglieder „wäre bereits direkt nach der Gründung einer eigenen Fraktion ein logischer und konsequenter Schritt gewesen“. Für die Grünen-Führung sei immer klar gewesen, dass es nur eine grüne Fraktion geben könne, dazu gebe es auch höchstrichterliche Urteile. „Eine Parteimitgliedschaft bei den Grünen ist mit der Gründung einer konkurrierenden Fraktion nicht vereinbar“, so Bill. „Ursprünglich wollte der Landesvorstand mit zwei Mitgliedern ein Gespräch führen, nachdem fragwürdige Äußerungen und Internet-Postings der Mitglieder an den Vorstand herangetragen wurden.“
Während sich Karismaz Ende Juli zu den Fragen geäußert habe, sei mit Sediqi kein persönliches Gespräch zu den ihn betreffenden Themen zustande gekommen, so der Grünen-Vize. Mit dem Austritt gehe Sediqi der „Möglichkeit aus dem Weg, sich den Vorwürfen inhaltlich zu stellen“, so Bill. „Vor der neutralen Instanz des Schiedsgerichts wäre das der richtige Ort gewesen.“
Grünen-Trennung hinterlässt tiefe Wunden
Sediqi nannte die Aussagen des Grünen-Vize auf Abendblatt-Nachfrage „haltlos“. Das Landesamt für Verfassungsschutz Hamburg habe "schriftlich in voller Kenntnis aller Vorwürfe bestätigt, dass es keinerlei Extremismusvorwurf gegen mich gibt", so Sediqi. "Diese Information war auch dem Landesvorstand der Grünen zugänglich. Das spricht für sich." Der Landesvorstand habe ihn "in der Tat zu einer tribunalähnlichen Veranstaltung geladen, an deren Ausgestaltung ich an keiner Weise mitbestimmen konnte". Auf einen "derartigen rein legitimatorischen Termin" habe er verzichtet.
"Völlig bigott" seien Äußerungen von Parteichefin Gallina, "ihr sei die Dynamik in der Sache unerklärlich, wo sie doch ein ach so ehrliches Gesprächsangebot gemacht habe", so Sediqi. "Das ist völlig verlogen: Zunächst wird ein unbeweisbarer Verdacht in die Öffentlichkeit gestreut und dann wird die die Teilnahme an einem Tribunal angeboten - mehr Zynismus geht nicht! Hätte es der Landesvorstand der Grünen mit seinem nunmehr behaupteten Aufklärungswillen ernst gemeint, hätte er mich diskret ansprechen können, das hat er erkennbar nicht getan."
Der Landesvorstand der Grünen könne nicht für sich in Anspruch nehmen, dass es ihm vorrangig um die Klärung von Verdachtslagen gegangen ist. "Es ist offensichtlich, dass ich aus der Partei gemobbt werden sollte - schöne neue Umgangskultur. Diese Situation wollte ich weder meinem sozialen Umfeld noch mir selbst weiter zumuten. Ich habe mich zur Wahl gestellt um Politik zu machen und nicht, um mich in grüne Personalintrigen verstricken zu lassen", so der Ex-Grünen-Abgeordnete. "Der Landesvorstand der Grünen ist reif für einen Rücktritt." Die jetzige Trennung hinterlässt also erkennbar tiefe Wunden.
Nun stehen Koalitionsverhandlungen an
In SPD und CDU hat man derweil keine Bedenken, was die Zusammenarbeit mit den früheren Grünen-Abgeordneten angeht. Der Kreisvorstand der CDU Hamburg-Mitte um den Vorsitzenden Christoph de Vries beschloss mit einer Gegenstimme bereits am Dienstagabend die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit SPD und FDP.
„Entscheidend für das Gelingen der Koalitionsgespräche wird sein, dass sich christdemokratische Positionen im Koalitionsvertrag sichtbar wiederfinden“, heißt es in dem Beschluss. „Ein besonderes Augenmerk bei den Verhandlungen gilt den Positionen der CDU Hamburg-Mitte bei den Themen Mobilität, Innere Sicherheit und Belebung der Innenstadt. Ein klares Bekenntnis der Koalitionspartner für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie gegen Extremismus jeglicher Art ist Voraussetzung für die politische Zusammenarbeit.“
Anmerkung: Das Statement von Shafi Sediqi wurde gegenüber einer früheren Version dieses Artikels auf dessen Wunsch verändert.